DenunziantentumBillett weg wegen missgünstigen Nachbarn?
Jeder kann andere Lenker wegen Verletzung der Verkehrsregeln anzeigen – meist mit Erfolg. Geht es um Fahrfähigkeit, darf man andere gar anonym anschwärzen.

Wenn sich jemand im Strassenverkehr nicht richtig verhält, kann er von einem anderen Verkehrsteilnehmer angezeigt werden. Meist glaubt das Gericht dem Anzeigeerstatter.
Es war für Dieter Deiss eine Fahrt zur Arbeit wie jede andere. «Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass irgendetwas vorgefallen ist», sagte er zur «Aargauer Zeitung». Das sah ein Automobilist aus Baden anders. In einem Brief, den er gleichentags ans Strassenverkehrsamt schickt, beschuldigt er Deiss, zu nahe aufgefahren zu sein und schliesslich rechts überholt zu haben.
Darauf schaltete sich die Polizei ein. Deiss bestreitet bei seiner Einvernahme die Darstellung des Badeners vehement. Er ist sich sicher, dass er nicht rechts überholt hat. Und: Er sei grundsätzlich ein rücksichtsvoller Fahrer. Doch der Strafrichter glaubt ihm nicht und verurteilt ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 5600 Franken und einer Busse von 800 Franken. Hinzu kommen Verfahrenskosten von 1100 Franken. Auch seinen Fahrausweis muss Deiss für fünf Monate abgeben.
Deiss ist erschüttert, dass jemand ihn anzeigen kann und diesem dann grundsätzlich geglaubt wird. «Das öffnet dem Denunziantentum Tür und Tor», findet er.
Gericht glaubt eher dem Anzeigeerstatter
Anwalt und Verkehrsrechtsexperte Martin Leiser bestätigt, dass das Gericht eher jenem glaubt, der die Anzeige einreicht, als dem Angezeigten, «weil nicht ersichtlich ist, wieso ein Wildfremder behaupten soll, ein anderer Verkehrsteilnehmer habe ihn rechts überholt, wenn es gar nicht stimmt». In der Regel befrage ein Richter den Anzeige-Erstatter aber ausführlich: «Wenn dieser schon mehrfach Anzeigen eingereicht hat, bei der Schilderung übertreibt oder eine Situation immer wieder etwas anders darstellt, kann auch ein Freispruch erfolgen.»
Leiser rät jenen, die sich zu Unrecht beschuldigt fühlen, den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft nicht zu akzeptieren. «Die Chance ist gross, dass die Staatsanwaltschaft rasch mal einen Strafbefehl ausstellt, quasi als Erledigungsvorschlag.» Der Fall werde oft erst umfassend untersucht, wenn gegen den Strafbefehl Einsprache erhoben werde.
Missgünstige Nachbarn können einen anonym anschwärzen
Aus Sicht von Leiser gibt es aber noch verheerenderes Denunziantentum: «Mir sind Fälle bekannt, in denen dem Strassenverkehrsamt gemeldet wurde, dass Personen wegen Alters oder zu starken Übergewichts nicht mehr in der Lage seien, ein Fahrzeug zu lenken.» Die Angeschwärzten hätten dann umgehend mittels Arztbesuch belegen müssen, dass sie noch fahrfähig seien. Ohne das schnelle positive Ergebnis der Arztkonsultation hätte es einen vorsorglichen Entzug gegeben.
Bitter daran sei: Die Entzugsbehörden müssten nicht einmal sagen, wer den Betroffenen verpfiffen hat. «Das Gesetz macht es möglich, dass der Anzeigende anonym bleiben darf.»
Auch bei mutmasslichem Drogen- oder Alkoholkonsum wird eingeschritten
Und: Auch wenn sich eine Person an das Strassenverkehrsamt wende und behaupte, der Nachbar fahre regelmässig betrunken oder konsumiere vor der Fahrt regelmässig Drogen, werde in der Regel eingeschritten. Meist müsse sich der Betroffene ebenfalls bei einem Arzt melden. Leiser: «Es kann aber so weit kommen, dass der Fahrausweis zuerst einmal vorsorglich entzogen wird.»
Im Aargauer Strassenverkehrsamt in Schaffisheim war aufgrund von Ferienabwesenheiten niemand für eine Stellungnahme erreichbar.