Erziehen per Sitzstreik«Sit-ins haben nichts mit Kuschelpädagogik zu tun»
Sollen Lehrer Sitzstreiks veranstalten, wenn es mit Schülern Probleme gibt? Experten halten dies für eine durchaus sinnvolle Möglichkeit.
Kommt es zu groben Regelverstössen in der Schule, sollen Lehrer Sit-ins veranstalten. So wird es beispielsweise im Stadtzürcher Schulkreis Glattal gehandhabt. Als dort im Kerzenziehen eine Tafel verschmiert worden war, berief die Schule zwei Tage hintereinander ein Sit-in ein – bis die Täter sich zu erkennen gaben und einen Vorschlag zur Wiedergutmachung machten.
Der Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl sagt, er rate nicht generell von diesem Vorgehen ab. Aber: «Ein Sit-in ist eine drastische Massnahme.» Es habe etwas von einer Kollektivstrafe: «Vereinnahmt werden nicht nur die Schuldigen, sondern alle.» Hinzu komme, dass ein Sit-in nicht immer funktioniere: «Was tut man, wenn die Übeltäter einfach beharrlich schweigen und sich nicht outen?», fragt Guggenbühl. In solchen Fällen bringe das Sit-in nichts, sondern führe zu einer Verhärtung der Fronten.
Vorbereitung auf das Schweizer Demokratiesystem
Auch Beat Zemp, Präsident des Schweizer Lehrerverbands, sagt: «Sit-ins haben nichts mit linker Kuschelpädagogik zu tun.» Stattdessen seien sie ein Weg, um gemeinsam Regeln festzulegen und auch gemeinsam Sanktionen für Regelverstösse zu beschliessen. «Das ist deutlich anstrengender, als wenn die Strafen von oben verordnet werden – aber es ist wohl auch wirksamer.»
Wenn man an Schulen Vollversammlungen durchführe, bei denen alle einbezogen würden, sei dies zudem ein guter Weg, die Schüler auf das Konkordanzsystem der Schweizer Demokratie vorzubereiten. «Deshalb ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Lehrer Sit-ins veranstalten.»
Für Zemp eignen sich Sit-ins aber nicht in jedem Fall: «Sie bieten sich an, wenn es darum geht, disziplinarische Probleme zu lösen. Sobald aber etwas strafrechtlich Relevantes passiert ist, dürfen die Schulverantwortlichen nicht mehr zur Diskussion rufen, sondern müssen durchgreifen.»
Lehrer fragen sich, wie sie Autorität durchsetzen können
Sit-ins gehören zum Konzept der «neuen Autorität», das der israelische Psychologie-Professor Haim Omer entwickelt hat und sich auf Gandhis Prinzip des gewaltlosen Widerstands beruft. Dass Schweizer Lehrer sich mit diesen Ideen befassten, zeigt laut Guggenbühl, dass es an den Schulen ein grosses Thema gibt: «Wie lässt sich Autorität durchsetzen?» Hier herrsche Verunsicherung, sagt der Jugendpsychologe. «Auf welche Weise sie Autorität ausübt, muss jede Schule für sich klären.»
Das sagt auch Zemp: «Je nach Schulkultur können Sit-ins ein Mittel sein.» Es gebe aber auch viele Schulen, die andere Methoden wählen würden, um die Schüler in die Lösung von Konflikten einzubeziehen: «Sie bilden etwa sogenannte Peacemaker aus, die schnell und niederschwellig einschreiten, wenn es zu Regelverstössen oder Streitigkeiten kommt.»