NationalratsnovizenKaum ein Neuling hielt seine Wahlversprechen
Nicht wenige der neuen Nationalräte verdanken die Wahl ihrem Smartvote-Profil. Eine Analyse indes zeigt: Viele Grünschnäbel warfen ihre Überzeugungen bereits in den ersten Wochen über Bord.
Schon in der Wintersession mussten die frisch gewählten CVP-Nationalräte Marco Romano und Fabio Regazzi (beide TI), Yannick Buttet (VS), Jean-Paul Gschwind (JU) und Daniel Fässler (AI) Farbe bekennen: Sie sprachen sich dafür aus, Initiativen für ungültig zu erklären, die gegen die Europäische Menschenrechtskommission (EMRK) verstossen. Vor den Wahlen hatten sie noch das Gegenteil vertreten.
Noch krasser ist der Gesinnungswandel bei Pierre Rusconi: Der Tessiner SVP-Nationalrat war nach seiner Wahl plötzlich gegen den Atomausstieg und gegen Massnahmen zur Milderung der «Heiratsstrafe» sowie für Mehrausgaben bei der Armee.
Das unscharfe Profil der Neulinge
Rusconi und Co. müssen sich bei ihrem Verhalten im Parlament an den Positionen messen lassen, die sie vor den Wahlen auf der Online-Plattform Smartvote bezogen haben. Denn viele Bürger geben jenen Politikern ihre Stimme, die den Fragebogen ähnlich ausgefüllt haben wie sie selber. So wird das Smartvote-Profil zu einem eigentlichen Wahlversprechen: Die Wähler erwarten, dass ein Politiker, der im Wahlkampf für den Atomausstieg oder tiefere Staatsausgaben weibelt, dies dann im Parlament auch umsetzt. Das gilt besonders für die Parlamentsneulinge. Ihr politisches Profil ist unschärfer als das der alten Hasen, die schon in hunderten Abstimmungen ihre Haltungen offengelegt haben.
20 Minuten Online hat analysiert, ob sich die 62 neuen Nationalräte in den ersten drei Wochen im Bundeshaus an ihre «Versprechen» hielten. Ein Grossteil der Sachgeschäfte kam für diese Untersuchung nicht infrage: Sie sind inhaltlich zu weit von den 75 Themen des Smartvote-Fragebogens entfernt. Bei fünf Abstimmungen jedoch ging es um Fragestellungen, wie sie - zumindest ähnlich – auch bei Smartvote auftauchen (siehe Box).
Nur elf Grünschnäbel haben weisse Weste
Die Auswertung der Abstimmungsergebnisse ergibt ein wenig schmeichelhaftes Resultat – nicht nur für Rusconi: Lediglich elf von 61 Grünschnäbeln verhielten sich bei allen fünf analysierten Abstimmungen so, wie es ihr Smartvote-Profil erwarten liess (siehe Grafik). Das sind sieben der neun neuen Grünliberalen, die SP-Vertreter Matthias Aebischer, Philipp Hadorn und Valérie Piller sowie die Freisinnige Petra Gössi. Fünf weitere verpassten die 100 Prozent, weil sie bei einer Abstimmung fehlten. 19 Neulinge haben in mindestens zwei Abstimmungen anders votiert als angekündigt.
Bei der Heiratsstrafe und Zersiedelung können sich die Neo-Parlamentarier immerhin darauf berufen, dass die Vorlagen inhaltlich nicht deckungsgleich waren mit der Smartvote-Frage, sondern bloss in eine ähnliche Richtung zielten. Bei den anderen drei Abstimmungen ist eine solche Argumentation schwieriger. Haben wir also einen Haufen «Windfahnen» neu ins Parlament gewählt?
Neugewählte wollen keine «Lämpen»
Nein, sagt Politologe Daniel Schwarz. Er hat zusammen mit zwei Kollegen untersucht, wie sich das Abstimmungsverhalten aller Parlamentarier von 2003 bis 2009 von ihren Vorwahl-Positionen unterschied.
Der stärkste Faktor, der zu Abweichungen führe, sei der Gruppendruck, erklärt Schwarz: «Die Fraktionen bringen die Exoten auf Linie, Abweichler dulden sie immer weniger.» Neugewählte wollten erst mal keine «Lämpen» mit ihren Parteikollegen riskieren – «gerade wenn es nicht um die eigenen Kernthemen geht». Seltener ist, dass ein Parlamentarier vor den Wahlen auf Parteilinie war, sich im Parlament aber emanzipiert.
Welche Nationalräte ihre Versprechen hielten – und welche eben nicht – zeigt auch unsere Bildstrecke. Klicken Sie auf das Bild.
Das Muster des Fraktionsdrucks findet sich auch bei den Neugewählten von Herbst 2011. Die fünf erwähnten CVPler schlossen sich bei der Frage der Ungültigkeitserklärung von Initiativen der Parteimeinung an. Auch Pierre Rusconi verbucht einzig deshalb tiefe Werte im Rating, weil er brav auf die SVP-Linie umschwenkte. In bester Gesellschaft war der Tessiner auch bei der Erhöhung der Landwirtschaftsausgaben. Praktisch alle Newcomer von SVP, BDP und CVP hatten bei Smartvote angegeben, weniger Geld für die Bauern ausgeben zu wollen – und stimmten dann doch für die Aufstockung der Mittel für 2012. CVP-Nationalrat Daniel Fässler (AI) legt jedoch Wert auf die Feststellung, er habe bloss zugestimmt, um einen Entscheid des Bundesrates zu korrigieren, der im Vergleich zu 2011 ursprünglich 20 Millionen weniger für Direktzahlungen budgetiert hatte. Damit habe er eingehalten, was er angekündigt hatte, argumentiert Fässler: gleich hohe Ausgaben für die Landwirtschaft.
Weniger «Abweichler» bei den Pol-Parteien
Ein ähnliches Bild bei der Heiratsstrafe: Vor den Wahlen hatten sich alle SVPler dafür ausgesprochen, die steuerliche Benachteiligung von Ehepaaren zu beseitigen. Doch kein einziger unterstützte dann den konkreten Lösungsansatz der BDP. Innerhalb der SP gab es die meisten Meinungsänderungen bei der Heiratsstrafe. Dass die Grünliberalen im Rating so gut abschneiden, dürfte auch mit der Auswahl der Abstimmungen zusammenhängen: Zu den fünf Sachfragen herrscht innerhalb der Partei ein Konsens. Bei der FDP ergibt sich kein einheitliches Bild.
Eine Erkenntnis von Politologe Schwarz aus den letzten beiden Legislaturen hat sich in der Wintersession 2011 noch nicht bestätigt: Bei den Pol-Parteien SVP, SP und Grüne gebe es tendenziell weniger «Abweichler», weil sie eine relativ fixe Ideologie hätten. Vertreter von Mitteparteien hingegen lassen sich laut Schwarz grundsätzlich eher auf Kompromisse ein und weichen in Abstimmungen von ihrem Wahlversprechen ab. «Diese Flexibilität ist wichtig», betont Schwarz. «Denn in unserem Politiksystem gäbe es keine Lösungen, wenn immer alle stur auf ihren Positionen beharrten.»
Die fünf Abstimmungen
Heiratsstrafe: Ein Teil der Zweiverdiener-Ehepaare ist gegenüber Konkubinatspaaren mit ähnlich hohem Einkommen steuerlich benachteiligt, weil sie in eine höhere Progressionsstufe geraten. Die BDP wollte das mit einer Motion ändern ähnlich wie die CVP mit ihrer Volksinitiative, zu der es bei Smartvote eine Frage gibt. Der BDP-Vorstoss fand am letzten Sessionstag eine Mehrheit von 132 zu 51 Stimmen. Die Gegenstimmen kamen vor allem aus der SVP.
Atomausstieg: Der Nationalrat befand über den vom Ständerat ausgehandelten Kompromiss: Atomausstieg Ja, aber kein Verbot von Nuklearforschung. Die SVP und eine Minderheit der FDP wehrten sich vergeblich gegen den Abschied vom Atomstrom: Sie unterlagen mit 58 zu 125 Stimmen.
Zersiedelung: Der grüne Nationalrat Daniel Vischer verlangte, dass der Bundesrat Massnahmen treffen soll gegen den «Mobilitätszwang» und die Zersiedelung des Mittellandes. Ein Mittel dazu wäre die Begrenzung des Wohnraums pro Kopf eine Forderung, die in die gleiche Richtung zielt wie die Landschaftsinitiative, die im Smartvote-Fragebogen figuriert. Sie will, dass die Gesamtfläche der Bauzonen für die nächsten 20 Jahre auf dem heutigen Stand begrenzt wird. Vischers Postulat wurde von einer bürgerlichen Mehrheit mit 103 zu 85 Stimmen bachab geschickt.
Vereinbarkeit von Initiativen mit dem Völkerrecht: Sollen Volksinitiativen für ungültig erklärt werden, wenn sie gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstossen? Ja, fand im Nationalrat eine Mehrheit von 99 zu 59 Stimmen. Wiederum unterstützten nur Teile der FDP die SVP bei ihrer Opposition gegen die Vorlage.
Mehrausgaben für Bauern: Die Kandidierenden gaben im Smartvote-Fragebogen auch an, für welche Politikbereiche sie mehr, gleich viel oder weniger Geld zur Verfügung stellen wollen. Bei der Detail-Beratung des Budgets 2012 mussten die Neulinge ein erstes Mal Farbe bekennen und entscheiden, ob die Direktzahlungen für Bauern um 20 Millionen aufgestockt werden sollten. Mit Stichentscheid von Ratspräsident und Bauer Hansjörg Walter sprach sich die Grosse Kammer dafür aus. Dabei spielte eine Koalition von SVP, CVP und BDP.