20 Jahre Hickhack - und kein Ende in Sicht

Aktualisiert

Verwahrungsdebatte20 Jahre Hickhack - und kein Ende in Sicht

Seit Jahren steigt der Druck der Bevölkerung, Straftäter härter anzupacken. Doch die Justiz sei der Forderung nach schärferen Strafen nicht genügend nachgekommen, sagen Kritiker.

Simon Hehli
von
Simon Hehli
Natalie Rickli und ihre SVP-Parteikollegen möchten die Regeln für den Umgang mit Gewalttätern weiter verschärfen - und stossen damit schon bei der FDP auf Widerstand.

Natalie Rickli und ihre SVP-Parteikollegen möchten die Regeln für den Umgang mit Gewalttätern weiter verschärfen - und stossen damit schon bei der FDP auf Widerstand.

Seit dem Mord an der 20-jährigen Pfadiführerin Pasquale Brumann in Zollikerberg im Oktober 1993 stellen sich Gesellschaft und Politik die Frage: Wie kann die Bevölkerung vor gefährlichen Tätern geschützt werden? Und wie lässt sich dieser Schutz mit einem allfälligen Recht eines Täters auf Sühne und Resozialisierung vereinen? Was die Volksseele damals besonders zum Kochen brachte: Brumanns Killer war ein verurteilter Vergewaltiger und Mörder, der auf Hafturlaub war.

Das sollte nie wieder passieren. Die Richter reagierten auf den Druck: Die Zahl der Verwahrungen von «geistig Abnormen» stieg wegen der öffentlichen Forderung nach «Null-Rückfallrisiko» von 43 im Jahr 1992 auf 199 im Jahr 2006, wie das Bundesamt für Statistik in einem Bericht schrieb.

Und es passierte wieder

Gut zehn Jahre nach dem Mord vom Zollikerberg wähnten sich die Befürworter harter Massnahmen gegen Gewalttäter endgültig am Ziel: Am 9. Februar 2004 nahmen 56 Prozent der Schweizer die Verwahrungsinitiative an. Extrem gefährliche Personen, die gemordet oder vergewaltigt haben, sollten lebenslang weggesperrt werden – ohne Recht auf spätere Überprüfung der Verwahrung.

Doch es passierte wieder. 2009 folgte der Fall Lucie, der nun wieder für Aufruhr sorgt. In diesem Jahr gab es zudem gleich zwei Fälle: den Tod von Marie und Adeline, die beide verurteilten Sexualverbrechern zum Opfer fielen. Für die Initiantin der Verwahrungsinitiative, Anita Chaaban, ist deshalb klar: Ihr Anliegen sei verwässert worden, die Richter missachteten den Volkswillen.

Die Zahl der Verwahrungen geht zurück

2007 war es zu einer Revision des Strafrechts gekommen – mit gravierenden Auswirkungen auf die Zahl der Verwahrten, wie die «NZZ am Sonntag» in diesem Sommer berichtete. Nicht nur gab es bisher kaum lebenslange Wegsperrungen im Sinne Chaabans. Auch die Zahl der neu angeordneten ordentlichen Verwahrungen ging massiv zurück: Im Schnitt von 18 auf 4,6 pro Jahr.

Gleichzeitig nahm dafür die Anzahl stationärer therapeutischer Massnahmen – im Volksmund «kleine Verwahrung» genannt – stark zu. Diese sind eigentlich darauf angelegt, den Täter irgendwann in die Freiheit entlassen zu können – doch bleiben immer mehr Therapierte wegen der Skepsis der Öffentlichkeit jahrelang in der Massnahme. Damit steigen auch die Kosten, denn einen Gewalttäter zu therapieren ist teurer, als ihn einfach zu verwahren.

«Richter scheuen Verantwortung»

Strafrechtsprofessor Martin Killias kritisierte gegenüber der «NZZ am Sonntag» diese Entwicklung. Die Richter scheuten die Verantwortung: Sie «schieben so die Verantwortung ab und machen auf jeden Fall nichts falsch». SVP-Nationalrätin Verena Herzog bemängelt, dass viele Richter bei Gewalttätern unbefriedigende Urteile fällten. «Den Entscheid des Bundesgerichts vom Donnerstag, Lucies Mörder nicht lebenslang zu verwahren, konnte ich nicht glauben!» Einmal mehr hätten die Richter den Täterschutz höher gewichtet als den Opferschutz, so die Kritiker.

Herzogs Parteikollegin Natalie Rickli ist ebenfalls überzeugt, dass es generell in die falsche Richtung gehe. Die Revision von 2007 sei zu stark auf die Täter ausgerichtet. «Vor lauter Resozialisierung ging der Schutz der Bevölkerung vergessen.»

Es ist denn auch vor allem Ricklis Partei, die in den letzten Jahre immer neue Anläufe nahm, um das Strafrecht zu verschärfen. Verena Herzog fordert in einem Vorstoss, dass nur noch jene schwer psychisch kranken Täter therapiert werden, bei denen eine «erhebliche Wahrscheinlichkeit» auf Therapieerfolg besteht. Alle anderen sollen verwahrt werden.

Lebenslang soll lebenslang sein

Rickli selber feierte wenige Tage nach dem Fall Adeline einen Triumph im Nationalrat: Dieser entsprach gegen den Willen von Justizministerin Simonetta Sommaruga ihrer Forderung, künftig allen Verwahrten den Ausgang und Hafturlaub zu verwehren. Weitere Vorstösse hat die Zürcher Rechtspolitikerin bereits eingereicht: Wird ein Mörder oder Vergewaltiger rückfällig, soll er automatisch verwahrt werden. Und Täter sollen nur noch dann bedingt entlassen werden, wenn «praktisch sicher ist, dass er sich in der Freiheit bewährt».

Sollte sie auf der Verwahrungsschiene keinen Erfolg haben, hält Rickli einen Plan B parat. Zusammen mit ihrem Parteikollegen Alfred Heer will sie in den nächsten Tagen einen Vorstoss einreichen, dass eine lebenslängliche Strafe auch wirklich in jedem Fall lebenslänglich bedeutet – und keine frühzeitige Entlassung möglich ist.

Warnung vor «totalitärem Sicherheitswahn»

FDP-Nationalrat Andrea Caroni wehrt sich gegen die «populistischen» Forderungen aus den SVP-Reihen. Zwar müsse ein Täter, der seine Gefährlichkeit unter Beweis gestellt hat, sehr hohe Hürden nehmen, damit er eine zweite Chance bekomme. «Aber wir dürfen nicht jedes Mal, wenn jemand in einem 8-Millionen-Land eine Schandtat verübt, in einen totalitären Sicherheitswahn verfallen.» Die absolute Sicherheit gebe es nun mal nicht.

Der grüne Nationalrat Alec von Graffenried mahnt, eine Umsetzung der SVP-Forderungen würde dazu führen, dass viel mehr Leute weggesperrt und die Kosten in die Höhe schiessen würden. Zudem betont der Präsident der Rechtskommission: «Im Rechtsstaat wollen wir keinesfalls Menschen zu Unrecht einsperren, trotzdem müssen wir die nötige Sicherheit schaffen. Da liegt das Spannungsfeld.»

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