«Es ist cool geworden, bei den Eltern zu wohnen»

Aktualisiert

Generation «Nesthocker»«Es ist cool geworden, bei den Eltern zu wohnen»

Junge Erwachsene wohnen immer häufiger bei ihren Eltern. Das Hotel Mama sei günstig, bequem und cool, sagt Erziehungsberater Jürgen Feigel.

von
S. Marty
70 Prozent der 18- bis 26-Jährigen wohnten 2013 noch bei ihren Eltern.

70 Prozent der 18- bis 26-Jährigen wohnten 2013 noch bei ihren Eltern.

Herr Feigel, in Ihrem neusten Ratgeber schreiben Sie von der Generation der so genannten Nesthocker. Wann sind Sie zu Hause ausgezogen?

Ich hatte mit 21 Jahren meine erste Wohnung. Nachdem ich die Lehre als Zimmermann beendet hatte, warfen mich meine Eltern sozusagen aus dem Haus. Ihr Credo war: «Wenn du dein eigenes Geld verdienst, kannst du nun auch auf eigenen Füssen stehen.»

Unterdessen scheint ein Wertewandel stattgefunden zu haben. Lebte 1980 noch ein Fünftel der unter 25-Jährigen bei den Eltern, waren es zwanzig Jahre später schon vier von fünf. 2013 wohnten 70 Prozent der 18- bis 26-Jährigen noch zu Hause (siehe Box). Warum wollen so viele junge Erwachsene nicht mehr von zu Hause ausziehen?

Tatsächlich hat die Zahl der Nesthocker in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Ursachen sind sehr unterschiedlich. Zum einen bildet sich die heutige Jugend ständig weiter: Sie macht Uniabschlüsse, Zweit- oder Weiterbildungen. Aus wirtschaftlicher Sicht können oder wollen sie sich keine eigene Wohnung leisten. Zum anderen ist es bequem, zu Hause zu wohnen: Dort wird gewaschen, gebügelt, gekocht. Nicht zuletzt aber empfinden viele Jugendliche das Zusammenleben mit den Eltern auch als entspannt. Es ist cool geworden, bei den Eltern zu wohnen, weil es nicht mehr diese strengen Hierarchien gibt wie früher. Weil Eltern in ihrer Erziehung zum Teil weniger autoritär sind, werden sie für ihre Kinder wie eine Art WG-Partner.

In Ihrem Buch unterscheiden sie drei verschiedene Typen von Nesthockern ...

Co-Autorin Marianne Siegenthaler differenziert die Jugendlichen in drei Kategorien. Da sind erstens die Pragmatiker. Es sind Jugendliche, die zwar gerne ausziehen würden, doch von äusseren Umständen davon abgehalten werden. Ihnen fehlt das Geld, weil sie etwa im Studium sind oder weil sie einen längeren Auslandaufenthalt planen. Die zweite Gruppe ist diejenige der Super-Opportunisten. Eine Generation von jungen Erwachsenen mit einem starken Selbstbewusstsein und hohen Erwartungen an sich und ans Leben. Dennoch wollen sie nicht richtig erwachsen werden, wechseln oft den Job oder beginnen immer wieder eine neue Ausbildung. Sie investieren ihr Geld am liebsten in ihre Selbstverwirklichung. Und zuletzt gibt es noch die so genannten Bumerang-Kinder, die schon einmal ausgezogen sind und dann wieder bei den Eltern einziehen. Bei ihnen sind es nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern auch persönliche Lebenskrisen wie etwa eine zerbrochene Liebe, die sie zurück ins Elternhaus treiben.

Fehlt es den jungen Leute heute an Biss, selbstständig durch schwierige Zeiten zu gehen?

Das kann auf junge Erwachsene zutreffen, die zu Hause stark verwöhnt wurden, etwa aufgrund einer Scheidung oder weil Eltern Schwierigkeiten haben, ihre Kinder loszulassen. Werden Jugendliche zu stark verwöhnt und bevormundet, müssen sie gar nicht erst erwachsen und selbstständig werden – respektive werden es eben eventuell erst später.

Dennoch scheinen auch Eltern nicht immer glücklich darüber zu sein, Hotel Mama oder Papa spielen zu müssen. In welchen Situationen wird das Zusammenleben zur Belastung?

Es wird dann schwierig, wenn die Nesthocker den Eltern auf der Nase herumtanzen und sie das Gefühl haben, nur weil sie rechtlich gesehen erwachsen sind, sich nichts mehr gefallen lassen zu müssen. Konflikte entstehen, wenn Jugendliche mit dem Anspruch nach Hause kommen, dass das Essen auf dem Tisch steht, der Kühlschrank immer gefüllt, das Zimmer ausgeräumt und die Miete bezahlt ist. Eltern müssen unbedingt lernen, ihren erwachsenen Kindern wieder mehr Grenzen zu setzen.

Was raten Sie den Eltern konkret?

Auch wenn viele Eltern einen anti-autoritären Erziehungsstil pflegen, sollten sie wieder auf Hierarchien bestehen und Regeln aufstellen. Es sollte abgesprochen werden, wie viel Geld die Kinder abgeben müssen und welche Leistungen darin enthalten sind. Auch beim Essen sollten sich die Familienmitglieder absprechen, Jugendliche sollten sich beispielsweise an- und abmelden müssen. In gewissen Fällen kann es sinnvoll sein, solche Abmachungen in einem Vertrag festzuhalten. Wenn auch danach ein harmonisches Zusammenleben nicht mehr möglich ist, empfehle ich den Eltern eine Beratungsstelle aufzusuchen oder mit ihren Kindern über den Auszug zu sprechen.

Leben Sie auch noch bei den Eltern oder sind Sie selbst Eltern von so genannten «Nesthockern», dann melden Sie sich unter feedback@20minuten.ch

70 Prozent wohnen bei den Eltern

Laut Zahlen des Bundesamts für Statistik wohnten 2013 knapp 70 Prozent der Jugendlichen zwischen 18 und 26 Jahren noch bei ihren Eltern. Knapp 55 Prozent von ihnen waren älter als 21 Jahre. 2011 waren es leicht weniger: 63 Prozent der 18 bis 26-Jährigen gaben in der Erhebung an, noch zu Hause zu wohnen. 52 Prozent von ihnen waren dabei älter als 21 Jahre. (sma)

«Die Nesthocker»

Jürgen Feigel ist Erziehungsberater und leitet die regionale Jugend- und Familienberatung im luzernischen Emmen. Zusammen mit Marianne Siegenthaler hat er den Ratgeber «Die Nesthocker. Spielregeln für das Zusammenleben mit erwachsenen Söhnen und Töchtern» geschrieben.

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