Neues SorgerechtScheidungskinder leben weiterhin beim Mami
Auch wenn geschiedene Eltern das Sorgerecht teilen, bleiben die Kinder in Realität meist bei der Mutter. Diverse Akteure wollen das ändern.

Seit gut einem Jahr gilt in der Schweiz das gemeinsame Sorgerecht.
Als im Juli 2014 das gemeinsame Sorgerecht in Kraft trat, feierten Väterorganisationen den Schritt euphorisch. Seither teilen sich Mutter und Vater nach einer Scheidung das Sorgerecht in aller Regel. In Realität habe sich mit dem neuen Gesetz aber «nicht viel» geändert, sagt der Luzerner Richter Peter Studer in der «Zentralschweiz am Sonntag». «Die Kinder leben meistens weiterhin bei der Mutter, während der Vater sie an gewissen Wochenenden und während dreier Ferienwochen bei sich hat.» In Juristenkreisen gelte das neue Sorgerecht deshalb bereits als gescheitert, heisst es im Artikel. Denn die Mütter könnten einfach «über den Kopf des Vaters hinweg» entscheiden.
Marcel Enzler hatte sich als Präsident des Vereins Vaterverbot jahrelang für die Einführung des gemeinsamen Sorgerechts eingesetzt. Er sagt: «Es ist wichtig, dass sich die Eltern in der Theorie endlich auf Augenhöhe begegnen können. In der Praxis gibt es aber noch viel Verbesserungspotenzial.» Er plädiert für das Modell der alternierenden Obhut, bei dem das Kind abwechselnd bei Mutter und Vater lebt. «Wenn ein paar Tipps beherzigt werden, funktioniert das Modell auch, wenn die Eltern nicht gut aufeinander zu sprechen sind», ist er überzeugt. Zusammen mit Weggefährten hat Enzler eine Kinderschutzorganisation ins Leben gerufen, die Eltern in Konfliktsituationen helfen soll, die Interessen des Kindes zu wahren (siehe Box).
«Beide sollen am Leben des Kindes teilnehmen»
Anfang Jahr hatte die Rechtskommission des Nationalrats vom Bundesrat einen Bericht über die alternierende Obhut verlangt. CSP-Nationalrat Karl Vogler, der die Vorlage als Kommissionssprecher vertrat, sagt: «Es ist auf jeden Fall wünschenswert, dass beide Eltern zu gleichen Teilen am Leben des Kindes teilnehmen.» Die Analyse des Bundesrats müsse nun zeigen, ob sich das Modell in der Praxis bewähre und ob es dafür allenfalls rechtliche Anpassungen brauche. «Das neue Sorgerecht nach einem Jahr bereits als gescheitert zu bezeichnen, halte ich jedenfalls für komplett falsch», so Vogler.
Auch SP-Nationalrätin Margret Kiener Nellen würde es begrüssen, wenn sich mehr getrennte Eltern die Betreuung und Erziehung des Kindes teilten – nicht nur auf dem Papier. Sie glaubt jedoch nicht, dass das geteilte Sorgerecht in jedem Fall die richtige Lösung ist. «Ein Dauerkonflikt zwischen den Eltern ist psychisch das Schlimmste, was einem Kind passieren kann», so die Sozialdemokratin. Schon im Parlament habe sie deshalb verlangt, dass die Gerichte von Fall zu Fall entscheiden können, ob sie den Eltern das gemeinsame Sorgerecht geben oder nicht.
Urteil als «schlechtes Signal»
Dass ein Elternteil das alleinige Sorgerecht bekommt, kommt seit der Gesetzesänderung vor einem Jahr nur noch sehr selten vor. Voraussetzung dafür ist eine schwerwiegende Gefährdung des Kindeswohls. Ende August hat das Bundesgericht jedoch eine erste Ausnahme definiert: Es sprach einer Mutter das alleinige Sorgerecht zu, weil sie mit dem Vater ihres Kindes «erhebliche und chronische Konflikte und Kommunikationsstörungen» habe.
Für Väterorganisationen ist dieser Entscheid ein schlechtes Signal: «Wir sind irritiert, dass es offenbar Bemühungen gibt, den politischen Willen wieder aufzuweichen», sagt Markus Theunert von Männer.ch. Der Gesetzgeber habe klargemacht: Kinder haben ein Recht auf beide Elternteile. «Nichtkooperation ist schlicht keine Option. Eltern dürfen ihren Egoismus und ihre Kränkungen nicht über das Kindswohl stellen.»
Organisation hilft Scheidungskindern
Ab Montag gibt es in der Schweiz eine neue Kinderschutzorganisation. KiSOS richtet ihr Angebot auf Kinder aus, deren Eltern sich in einer Trennungs- oder Scheidungssituation befinden. «Heute befassen sich praktisch alle Kinderorganisationen mit den Folgen von körperlichen oder sexuellen Übergriffen», so Mitgründer Marcel Enzler. Für Kinder, die unter der Trennung ihrer Eltern litten, gebe es hingegen kein spezialisiertes Angebot. «Gerade in dieser Zeit werden die Bedürfnisse des Kindes aber oft übersehen.» KiSOS will zerstrittenen Eltern Kommunikations-Ratschläge geben. Zudem soll ein spezialisiertes Juristennetzwerk aufgebaut werden.
Die Organisation kann bereits auf einen namhaften Unterstützer zählen. Der Bündner Regierungsrat Christian Rathgeb engagiert sich im Verein. «Der Kindsschutz liegt mir persönlich sehr am Herzen», sagt er auf Anfrage. «Leider werden Kinder in Scheidungs- und Trennungsverfahren immer wieder zu Spielbällen und in schweren Fällen psychisch durch einen Elternteil misshandelt.» Er engagiere sich in erster Linie als Vater dreier Kinder, aber auch als politische Person für das Anliegen, präzisiert Rathgeb. (jbu)