Der Gefallen stirbt ausDie Zeiten, als Freunde einem halfen, sind vorbei
Zügeln, Blumengiessen, Briefkastenleeren – statt Freunde um Hilfe zu bitten, bezahlen viele lieber Profis für diese Dienstleistungen.

«Dienstleistungen, die früher von Familie und Freunden gemacht wurden, werden auf den Markt ausgegliedert und haben plötzlich einen Preis», sagt Jugendforscher Philipp Ikrath. Das führe dazu, dass man keinen Freundschaftsdienst mehr annehmen könne, ohne das Gefühl zu haben, man schulde dem anderen etwas.
Keystone/urs JaudasDie Kisten sind gepackt. Der Umzug steht an. Doch statt unsere Kollegen um Hilfe zu bitten, engagieren wir einen Zügeldienst. Wir brechen uns das Bein. Doch statt eine Freundin zu bitten, Staub zu saugen, einzukaufen und mit dem Hund rauszugehen, engagieren wir eine Putzfrau, kaufen die Lebensmittel online ein und rufen einen Hundesitter an. Wir verreisen in die Ferien. Doch statt den Nachbarn zu fragen, den Briefkasten zu leeren, bitten wir die Post um eine Zustellungspause. Wir landen am Flughafen. Man bestellt das Taxi statt das Mami. Es sieht ganz so aus, als würde der Gefallen langsam, aber sicher aussterben.
«Dienstleistungen, die früher von Familie und Freunden gemacht wurden, werden auf den Markt ausgegliedert und haben plötzlich einen Preis», sagt Jugendkultur-Forscher Philipp Ikrath. Das führe dazu, dass man keinen Freundschaftsdienst mehr annehmen könne, ohne das Gefühl zu haben, man schulde dem anderen etwas. «Sogar für kleinste Gefälligkeiten erwartet man eine Gegenleistung, etwa eine Flasche Wein oder eine Packung Schokolade. Man bekommt nichts mehr umsonst.» Menschen begegneten sich als Marktteilnehmer. Dieser Umstand halte viele davon ab, ihre Freunde um einen Gefallen zu bitten.
«Freundschaften sind heute rational und pragmatisch»
Was also macht eine Freundschaft heutzutage noch aus? «Wichtig sind Offenheit und Transparenz», sagt Ikrath. Man erwarte, dass einem Freunde alles erzählen und zuhören. Würde auf Kommunikationsangebote nicht reagiert, fühle man sich zurückgewiesen. «Etwa, wenn mein Foto auf Facebook nicht gelikt oder kommentiert wird.» Es gilt also: Informations- statt Dienstleistungsaustausch.
Das neue Freundschaftsverhältnis zeige sich besonders in mittleren und höheren sozialen Schichten. «Diese Leute finden es nicht zeitgemäss, wenn jemand sagt: ‹Ich stehe immer für meine Freunde ein, egal, was sie verbrochen haben, denn sie sind für mich wie meine Familie.›» Solche Bekundungen seien eher ausländischen Jugendlichen aus tieferen sozialen Schichten vorbehalten. Ikrath: «Freundschaften sind heute sehr rational und pragmatisch.»
Diese Verkapitalisierung von zwischenmenschlichen Verhältnissen zeigt sich laut Ikrath auch in Partnerschaften: «Viele ziehen eine Bilanz: Wie viel habe ich in eine Beziehung investiert, was ist zurückgekommen? Stimmt die Bilanz nicht, sind sie unzufrieden.»
«Junge sind nach wie vor hilfsbereit»
Lukas Golder, Jugendforscher beim Forschungsinstitut Gfs.bern, glaubt: «In unserer Freizeit gehen wir verschiedenen Beschäftigungen nach. Unsere Zeit ist knapp bemessen. Man will andere nicht belästigen.» Vor allem im erweiterten Freundeskreis oder gegenüber Nachbarn bitte man nur zögerlich jemanden um einen Gefallen.
«Bei Familienangehörigen oder engen Freunden aber ist die Schwelle viel tiefer. Man kann Hilfe annehmen, ohne das Gefühl zu haben, in der Schuld des anderen zu stehen.» Dass junge Leute aber grundsätzlich egoistischer und weniger hilfsbereit sind, bezweifelt Golder. Die letzte Jugendumfrage habe gezeigt, dass sich Jugendliche vermehrt in der Freiwilligenarbeit engagierten sowie zunehmend Vereinen und Clubs beiträten.
Im Vergleich zu den USA und Brasilien bleibt die Schweizer Jugend im CS-Jugendbarometer zwar weiterhin weniger sozial engagiert, aber der steigende Trend stimmt Lukas Golder optimistisch: «Die Schweiz ist wegen des ausgeprägten Milizgedankens in vielen Bereichen stark auf freiwilliges Engagement angewiesen.»