Jugendgewalt-Konferenz«Cybermobbing ist heute das grösste Problem»
Die Jugendkriminalität ist in der Schweiz deutlich zurückgegangen. Das belegen neuste Zahlen. Gewaltexperte Roland Zurkirchen fordert, nun erst recht Massnahmen zu ergreifen.

Jugendliche sind heute zwar insgesamt weniger gewalttätig, jedoch werden ihre Taten brutaler. Zugenommen haben vor allem die Beleidigungen über das Internet.
Die Gewaltdelikte unter Jugendlichen sind stark rückläufig. Ausgerechnet jetzt findet die erste nationale Konferenz zum Thema Jugendgewalt statt. Ist dieser Anlass überhaupt noch nötig?
Roland Zurkirchen: Es ist richtig, dass die Zahlen national sinken. Allein im Kanton Zürich sind die Gewaltstraftaten von Unter-18-Jährigen in den letzten beiden Jahren um insgesamt 30 Prozent gesunken. Ich glaube auch, dass sich in den Köpfen vieler Jugendlicher etwas getan hat. Dank verschiedenster Präventionsmassnahmen gelten heute auch diejenigen als cool, die sich gegen Gewalt aussprechen. Es wäre allerdings völlig falsch, sich nun zurückzulehnen und die Jugendlichen sich selbst zu überlassen. Ich vergleiche es mit dem Velofahren. Wenn wir den Berg hinauffahren und plötzlich aufhören zu strampeln, stehen wir auch nicht still, sondern fahren rückwärts. Deshalb müssen wir nun erst recht nachsetzen. Über den Berg sind wir nämlich noch nicht.
Was ist das Ziel der ersten Konferenz zur Jugendgewalt, die am Freitag stattfindet?
Für mich steht der Austausch zwischen den Kantonen und Städten im Vordergrund. In der Schweiz ist es leider oftmals das Problem, dass jeder Kanton seine eigenen Lösungen entwickelt. Wichtig ist, dass gute Projekte auch in anderen Kantonen vorangetrieben werden.
Zum Beispiel?
In Zürich haben wir ein Projekt zur Gewaltprävention mit dem Namen «Unschlagbar» für Freizeitvereine erstellt, das von anderen Kantonen übernommen werden kann. Dabei geht es darum, Trainer und Leiter der Vereine und Klubs zu schulen, um Gewaltvorfällen vorzubeugen und im Notfall richtig einzugreifen.
In welchen Bereichen müssen die Kantone ihre Massnahmen gegen Jugendgewalt verstärken?
Ein Feld, in dem vor allem die Schulen gefordert sind, ist der Cyberbereich. Das Mobbing über das Internet ist ein grosses Problem und zumindest in unserer Statistik der eindeutige Spitzenreiter bei Konflikten zwischen Jugendlichen. Auch wenn die Gewalt nicht physisch ist - die Verletzungen sind genauso tiefgehend wie durch einen Faustschlag.
Und wie kann man Schüler vor solchen Mobbing-Angriffen schützen?
Wir versuchen, die Lehrpersonen zu schulen. Zudem fördern wir mit einem Programm Sozialkompetenz. Die Schüler sollen dabei lernen, sich in den anderen hineinzuversetzen.
Ist es nicht wichtiger, gewalttätige Jugendliche individuell zu betreuen?
Es braucht beides. Klar, wenn jemand ein Handicap oder eine Störung hat, muss der Schulpsychologe sich darum kümmern. Dennoch ist das Klima in einer Klasse entscheidend, ob individuelle Störungen überhaupt ausbrechen.
Abgesehen von der psychischen Gewalt über das Internet - wie hat sich die körperliche Gewalt unter Jugendlichen verändert?
Sie ist zwar seltener, dafür brutaler geworden. Mitverantwortlich sind hier sicher die Handys, mit denen man alle Taten filmen kann. Heute können Jugendliche nicht mehr einfach erzählen, sie hätten jemanden verprügelt - sie müssen es beweisen. So kommt es dann zu solch brutalen Szenen, in denen noch auf ein Opfer eingeprügelt wird, obwohl es schon am Boden liegt. Dabei kann es auch zu wüsten Drohungen oder Diebstahl kommen.
Finden diese Übergriffe auch in der Schule beziehungsweise auf dem Pausenplatz statt?
Nein, fast ausschliesslich in der Freizeit, vor allem im Ausgang. Auf den Pausenplätzen der Stadt Zürich kommt es vielleicht mal zu blauen Flecken - Prügeleien mit schwereren Verletzungen gibt es eigentlich nie.
Warum sind die Jugendlichen während der Schulzeit so brav?
Weil in den Schulen klare Regeln gelten, die auch durchgesetzt werden. Auch auf den Pausenplätzen markieren die Lehrer heute bewusst Präsenz und greifen nötigenfalls ein. Das wissen und akzeptieren die Jugendlichen. Die Erfahrungen in den Schulen zeigen: Junge brauchen klare Grenzen. Unsere Befragungen haben gezeigt, dass sich die Schülerinnen und Schüler in der Schule sehr sicher fühlen.
Wie sieht es neben der Schule aus: Wo sollten Eltern mehr Grenzen setzen?
Wichtig ist, dass die Eltern eine Vertrauensbasis zu den Kindern aufbauen - lange bevor diese überhaupt in den Ausgang gehen. Die Jugendlichen sollen wissen, dass sie jederzeit zu Hause anrufen können - auch wenn sie Mist gebaut haben. Ich finde es erschreckend, wenn wir die Eltern eines Jungen anrufen, der in der Ausnüchterungszelle sitzt, und diese sagen, das sei ihnen eigentlich egal. Neben dem Vertrauen ist eine gewisse Kontrolle sicher wichtig. Eltern müssen ihren Kindern Leitplanken setzen, in dem sie zum Beispiel klar sagen, wann sie nach dem Ausgang zu Hause sein müssen. Sie sollten auch regelmässig nachfragen, wo die Kinder waren und was sie genau unternommen haben. So viel Kontrolle muss sein.
Kommt es trotz allem zur Gewalttat, sind die Strafen in der Schweiz vor allem rechten Politikern zu harmlos. So fordern einige analog zu Deutschland einen Wochenendarrest für Jugendliche. Was halten Sie davon?
Ich verstehe, dass die Gesellschaft jugendliche Gewalttäter bestrafen will. Doch im Strafrecht geht es nicht darum, was die Gesellschaft will, sondern was die Jugendlichen brauchen - und dies ist eine Sozialisierung. Vergleiche mit Deutschland sind heikel. Im Fall der Schläger von München waren die Strafen vielleicht härter, als sie es in der Schweiz gewesen wären - dafür hätten die therapeutischen Massnahmen hierzulande viel länger gedauert und gewirkt. Es ist bewiesen, dass man bei Jugendlichen mehr erreicht, wenn man sie betreut, als wenn man sie einfach einsperrt - obwohl sie selbst die zweite Variante bevorzugen. Denn eine Haft oder einen Arrest kann man einfach über sich ergehen lassen - eine Therapie hingegen nicht.
Im Fall von München hatte zumindest einer der Täter einen Migrationshintergrund. Ist Jugendgewalt ein Ausländerproblem?
Ob jemand gewalttätig wird, hängt von verschiedenen Risikofaktoren ab. Zum einen sind dies die fehlenden Perspektiven, wenig finanzielle Mittel, eigene Erfahrungen mit Gewalt oder die Impulsivität einer Person. Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund weisen grundsätzlich mehr solcher Risikofaktoren auf - deshalb sind sie auch öfter in Gewalttaten verwickelt. Wenn man diese Fälle verhindern will, sollte man nicht bei den Immigrantengruppen ansetzen, sondern bei den Risikofaktoren.

Roland Zurkirchen
Roland Zurkirchen ist der Leiter der Fachstelle für Gewaltprävention der Stadt Zürich. Er ist Mitglied der Steuergruppe des nationalen Programms «Jugend und Gewalt» und vertritt dort die Städte. (jep)
1. Nationale Konferenz «Jugend und Gewalt»
Bund, Kantone, Städte und Gemeinden haben Anfang 2011 das gemeinsame Präventionsprogramm «Jugend und Gewalt» gestartet. Das Programm will in den nächsten fünf Jahren die Grundlage für eine wirksame Gewaltprävention in der Schweiz schaffen. Der Überblick über den aktuellen Stand der Gewaltprävention in der Schweiz bilden den Schwerpunkt der ersten nationalen Konferenz zu «Jugend und Gewalt». Sie findet am 9. März in Bern statt.