Kampf für den IS69 Personen reisten aus der Schweiz in den Jihad
Aus der Schweiz reisen weniger junge Leute in den Heiligen Krieg als aus anderen Ländern Europas. Eine neue Studie warnt jedoch davor, das Phänomen zu unterschätzen.
Noch sind es wenige, die die Schweiz verlassen, um in Syrien oder in andern Krisengebieten für den Islamischen Staat (IS) zu kämpfen. Miryam Eser Davolio von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) warnt jedoch vor einer Unterschätzung des Phänomens.
Eser präsentierte am Mittwoch an der ZHAW eine Studie zu den Hintergründen jihadistischer Radikalisierung in der Schweiz, die sie selber initiiert hat. Drei Bundesämter haben sie finanziert und wollen sie als Grundlage für Massnahmen verwenden.
«Wir wollten mit unserer Studie keinen Alarmismus betreiben», betonte die Studienleiterin. Vielmehr hätten sie und ihr elfköpfiges Team aufzeigen wollen, wie und warum Menschen radikalisiert werden und was dagegen unternommen werden kann.
Nur drei Frauen
Laut der Extremismusexpertin hat auch die Schweiz ein Problem mit Menschen, die sich radikalisieren und bereit sind, in Syrien, im Irak oder in Somalia für den IS zu kämpfen. Im Vergleich zu andern europäischen Ländern seien es zwar weniger Fälle, doch könne sich das Problem in Zukunft verschärfen.
Seit 2001 haben gemäss dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB) 69 Personen, darunter drei Frauen, jihadistisch motivierte Reisen in Konfliktgebiete unternommen. Die meisten von ihnen waren zwischen 20 und 35 Jahren alt. Es gab aber auch Männer bis 49 Jahre.
Am meisten überrascht hat Eser, dass sich darunter nur sechs 15- bis 19-Jährige befanden. Das entspreche nicht dem Bild, das über die Medien verbreitet werde. «Da wird meist nur über jugendliche Jihadisten berichtet.»
Der weitaus grösste Teil derjenigen, die sich in Krisengebiete begeben haben, waren Muslime oder Personen, die zum Islam konvertiert sind. Sie stammen vor allem aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien und aus Somalia, gefolgt von der Schweiz.
Kein einheitliches Muster
Das Phänomen der jihadistischen Radikalisierung sei sehr komplex, betonte Elser. «Es gibt kein allgemeingültiges Muster. Jeder Fall ist ein Fall für sich.» Besonders anfällig seien junge Muslime. Die Pubertät sei ohnehin eine Phase erhöhter Anfälligkeit für extreme Positionen und Lebensstile.
Bei einem Teil der Islamisten spielten auch psychische Labilität und individuelle Integrationsschwierigkeiten eine Rolle, sagte Eser. Ausgrenzung und ein ständiger Rechtfertigungsdruck könnten zu Frustration und Resignation führen oder eben dazu, dass sich die jungen Muslime von radikalen Positionen angezogen fühlten.
Anwerbung übers Internet
Nicht bestätigt hat die Studie, dass die Radikalisierung über Gefängnisse oder Moscheen erfolgt. Leute, die in den Jihad ziehen, seien meist nicht in Moscheen eingebunden. Es seien vor allem Aussenseiter aus schwierigen familiären und sozialen Verhältnissen, die sich mit Extremisten radikalisierten.
Eine wichtige Rolle bei der Anwerbung jihadistisch motivierter Leute spielt das Internet. Das Propagandamaterial der Terrormiliz IS zeige zwar Videos von Kinderleichen und Vergewaltigungen. Gleichzeitig werde aber auch signalisiert, dass der IS ein Staat sei, der für seine Bürger sorge und in dem man gut mit der Familie leben könne, stellte Eser fest.
Über das Internet mit einem Anwerber in Kontakt kam 2013 auch ein 30-jähriger Westschweizer, der in einer schwierigen Lebensphase beschloss, nach Syrien zu reisen. Erst vor Ort wurde ihm bewusst, dass einiges suspekt war. So hatte er nur die Wahl, sich als Kämpfer ausbilden oder sich als Selbstmordattentäter missbrauchen zu lassen.
Nach 54 Tagen schlechter Behandlung in einem Gefängnis kehrte der Mann desillusioniert in die Schweiz zurück, wo er wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation sowie wegen Leistens fremder Kriegsdienste zu 200 Tagen Sozialarbeit verurteilt wurde. Heute sehe er sich als Opfer des IS und distanziere sich von der Terrormiliz, sagte Eser.
Mehr Prävention angeregt
Um zu verhindern, dass sich Leute in solche Gefahren begeben, wird in der Studie eine verstärkte Prävention und Intervention angeregt. Heute fehle das spezifische Fachwissen und das Know-how im Umgang mit dem Phänomen der jihadistischen Radikalisierung, stellte die Extremismusforschende fest.
Angeregt werden deshalb zwei Kompetenzzentren, eines in der Deutsch- und eines in der Westschweiz. Angesichts der kleinen Fallzahlen mache es keinen Sinn, dass alle Kantone eigene Strukturen aufbauten, meinte Eser. Als notwendig erachtet werden in der Studie zudem Helplines für Jugendliche, Eltern, Lehrer und Imame.
Zudem müssten Deradikalisierungsprogramme entwickelt werden - auch für Rückkehrer. Miryam Eser könnte sich vorstellen, dass Rückkehrer, die dem IS abgeschworen haben, als Mentorinnen oder Mentoren eingesetzt werden könnten. (sda)