Schlepperbanden suchen täglich neue Routen

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Grenzwache ChiassoSchlepperbanden suchen täglich neue Routen

Die Schlepper, die Flüchtlinge in die Schweiz schleusen, sind gut vernetzt. Mit der Grenzwache Chiasso liefern sie sich ein tägliches Versteckspiel.

Roland Schäfli
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Roland Schäfli

Chiasso ist für Schlepper und Flüchtlinge das Tor zur Schweiz. (Video: Michael Fischer/Roland Schäfli)

Die dramatischen Massnahmen an den Grenzzäunen Osteuropas werden einen Verdrängungseffekt haben, der letztlich auf die Schweizer Grenzwacht wirkt. Die Flüchtlingsströme könnten sich auf die Route Slowenien–Italien verlagern, was noch mehr Flüchtlinge Richtung Südgrenze bringt – dem Schweizer Hotspot der irregulären Migration.

Die Männer in Schwarzblau richten in Minutenschnelle eine mobile Strassenkontrolle ein. Am Übergang Arogno, einem Seitental. Hier gelang ihnen letztes Jahr ein erfolgreicher Schlag gegen die Schlepperbanden. Drei grosse Netzwerke wurden zerschlagen. Doch die Profiteure der Flüchtlingsnot lassen sich nicht abschrecken. Durchschnittlich geht den Grenzwächtern an jedem Tag des Jahres ein Schlepper ins Netz. Bis August wurden 260 Schlepper angehalten. Und jeden Tag spielt die Grenzwacht-Region IV an der Südgrenze ein neues Spiel.

«Wir wissen, dass sie unsere Posten beobachten, unsere zivilen Fahrzeuge notieren, die Dienstpläne ausspionieren, die Beschreibungen untereinander austauschen», erklärt Patrick Benz, Chef Fachbereich Migration des Grenzwachtkorps. Die Schlepper sind fix und voll krimineller Energie. Sie wechseln die Routen, probieren neue Tricks. Die Polizei muss erahnen, wo sie es beim nächsten Mal versuchen. Für den Schlepper steht dabei nur eine Busse, allenfalls U-Haft auf dem Spiel. Erst vereinzelt kam es zu Verurteilungen. Das sind die Spielregeln.

Schlepper sind fix, Grenzwache ist flexibel

Die mobilen Einheiten des Grenzwachtkorps können ihren Einsatz von Chiasso bis zum Grossen St. Bernhard ausweiten. «Stop – Border Guard» blinkt die LED-Schrift auf der Rückseite des zivilen Dienstfahrzeugs, wenn jemand unterwegs angehalten wird. Nach 20 Minuten verschieben sie den Kontrollpunkt – denn bis dahin dürften Schlepper davon erfahren haben. Wer das erste Mal erwischt wird, der kommt in der Regel wieder auf freien Fuss – und wird seine Erfahrungen teilen. Benz: «Wir müssen mit unseren Massnahmen sehr flexibel bleiben.» Er selbst hat schon Schlepper erwischt. Und wenn er dann die Wagentür öffnet – meist werden in dieser Region Kleinbusse für eine Grösse von 3 bis 12 Flüchtlingen benutzt –, dann «gibt mir das ein gutes Gefühl, wenn wir diese Menschen aus den Fängen des Kriminellen befreien können, der von ihnen profitiert».

Spezialeinheit gegen Schlepper

Eine neu geschaffene Taskforce mit Operationszentrum Chiasso hat jetzt den Kampf gegen die Schlepper aufgenommen, unter Führung der Kapo Tessin, unter Co-Leitung des Grenzwachtkorps und in Zusammenarbeit mit deutscher Bundespolizei und Fedpol, (Bundesamt für Polizei). Doch der Alltag will es, dass die Beamten sich nicht einzig auf Schlepper konzentrieren können. Während der Visite von 20 Minuten wird Alarm ausgelöst – Raubüberfall in Balerna. Die mobilen Einheiten werden abgezogen. Fassen schwere Schutzwesten und Maschinenpistolen, besetzen die Grenze. Jetzt darf keine Maus mehr unkontrolliert durchkommen. Ausserdem warten die Grenzwächter heute auf «den Warenhändler». Sie verfügen über ein detailliertes Dossier des Lebensmittelschmugglers, kennen sein Gesicht, seine bevorzugten Fahrzeuge. Gemäss gut unterrichteten Kreisen will er heute noch die Grenze überschreiten.

Lange grüne Grenze

Sind die Kräfte der Grenzwacht gebunden, haben Schlepper freie Fahrt. Doch die Grenzwächter wissen, wonach sie suchen müssen. Autos, die zu dieser Zeit nicht zum Verkehr passen, und «Leute, die nicht hierher passen», wie Benz sich diplomatisch ausdrückt. Die Grenzwächter kennen das Strassennetz im Schlaf. Und kennen in den Tessiner Hügeln jeden natürlichen Übergang. Das sind nicht wenige. Die grüne Grenze wird heute noch von Kriminaltouristen benutzt, von Schmugglern. Die Ausnahme bestätigt die Regel. Erst gestern wurden zwei Ausländer zu Fuss abgefangen. Doch niemand nimmt den beschwerlichen Weg über die Berge, wenn er einfach am Bahnhof um Asyl nachsuchen kann.

Drei Wochen später stehen sie hier

Der Bahnhof Chiasso bleibt denn auch die umtriebige Anlaufstelle der Migranten. Die Grenzwacht geht die Lagerapporte mit dem Staatssekretariat für Migration, Fedpol und auch der SBB durch. Wird eine Schiffslandung auf dem europäischen Kontinent bekannt, kann man davon ausgehen, dass diese Eritreer, Somalier und Gambier in maximal drei Wochen an der Schweizer Grenze anklopfen. Für viele von ihnen auf der Mittelmeer-Fluchtroute ist Chiasso das Ziel, doch «nachgelagert spüren wir hier auch die aktuellen Auswirkungen im Osten», so Benz weiter.

Die Grenzwächter durchkämmen die aus Italien kommenden Regionalzüge. Durchschnittlich 30 bis 60 Flüchtlinge am Tag holen sie aus den Zügen, bringen sie zur Abklärung auf den Grenzwachtposten «Chiasso stazione». Die Abnahme des Fingerabdrucks klärt sofort, ob etwas gegen die Person vorliegt oder ob sie in der Schweiz schon einmal Asyl beantragte. Manche Hände sind zu trocken für den Scan. Da helfen die Grenzpolizisten mit Feuchttüchlein nach. Auch für die Grenzwächter – belastende Situationen. Gestern brach ein Ausländer während der Kontrolle zusammen. Die herbeigerufene Ambulanz stellte fest: Er hat simuliert. Heute weint ein junger Mann aus Leibeskräften, als man ihm den Fingerabdruck nehmen will. Der Grenzwächter zeigt auf die Schweizer Karte an der Wand, auf das Emblem auf ihrer Brust. «Uniformen», weiss Benz, «sind für diese Menschen kein vertrauensstiftendes Signal.»

Wohl auch darum versuchen viele, bei Leibesvisitation und Gepäckkontrolle ihre Ausweispapiere zu unterschlagen. Ein zerknüllter «Money Transfer», das Dokument einer Geldüberweisung, gibt in einem Fall Aufschluss über die wahre Identität. Auch ein Zugticket, das jemand noch schnell im Abfallkübel entsorgt, verrät: vorangegangene Flüchtlingsstationen waren Rom und Mailand. Manchmal rüsten sich die Menschen bei Hilfswerken neu aus, sehen dann ausgeruht und gut gekleidet aus. Allenfalls haben sie eine Zwischenstation eingelegt, in Italien für ein Handgeld Früchte gepflückt. So kann ihre Flucht Jahre dauern. Andere wirken erschöpft, niedergeschlagen. Die Grenzwächter reichen eine Flasche Mineralwasser und einen Riegel, was dankbar angenommen wird. Manche bringen die Krätze mit, leiden an Hepatitis C, in selteneren Fällen an Tuberkulose. Die Grenzwächter tragen blaue Gummihandschuhe.

Während die Durchreise durch die Schweiz ohne gültige Papiere weiterhin nicht erlaubt ist, solche Personen gemäss Rückübernahmeabkommen nach Italien zurückgewiesen werden, braucht man lediglich ein Schutzbedürfnis klarzumachen, um in den Asylprozess aufgenommen zu werden. Wie die Frau aus Somalia, die um 14.52 Uhr Schweizer Boden auf unsicheren Füssen betritt. Spindeldürr ist sie, lässt das Prozedere wortlos über sich ergehen. Sie braucht das Wort «Asyl» nicht auszusprechen. Nur zu erkennen geben, dass sie den Schutz der Schweiz in Anspruch nehmen will. Schüchtern lächelt sie, verständigen kann sie sich nicht. Dann begleiten mehrere Grenzwächter die Somalierin zu einer eingezäunten Einrichtung: dem Empfangs- und Verfahrenszentrum EVZ des Staatssekretariats für Migration. Hier endet die Zuständigkeit der Grenzwache. Und hier beginnt für die unbekannte Frau das Asylland Schweiz.

Druck an Ostgrenze wächst

Bis August dieses Jahres hat allein das Grenzwachtkorps (Zahlen der Polizei sind nicht eingerechnet) 16'260 rechtswidrige Aufenthalte festgestellt, wobei Menschen aus Eritrea den grössten Anteil ausmachen. Allein im August wurden in Chiasso über 1600 rechtswidrige Aufenthalter angehalten. Im Vorjahr kam es an der Südgrenze insgesamt zu 2600 Wegweisungen. Benz: «Die Lage in Chiasso ist weiterhin angespannt, aber unter Kontrolle – wir können das handhaben.» Die Grenzwacht-Region IV legt Wert auf die Feststellung, dass man im Tessin nicht um Hilfe ruft. Die anderen Regionen – die Genfer, Zürcher, Thurgauer – greifen den Tessiner Kollegen im Rahmen von einwöchigen Rotationen unter die Arme. Nur die Ostschweizer sind jetzt nicht mehr anzutreffen. In der Zwischenzeit haben sie selbst alle Hände voll zu tun, und der Druck der «Balkan-Route» dürfte sich noch erhöhen. Denn zum Hotspot Chiasso ist nun noch ein zweiter hinzugekommen: Buchs.

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