Selahattin Demirtas«Die Schweiz muss Erdogan die Stirn bieten»
Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas warnt mit drastischen Worten vor den Folgen der Politik Erdogans. Europa dürfe nicht länger wegsehen.
Gerade als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Donnerstagnachmittag in Berlin verärgert seinen Botschafter abzieht, sitzt sein ärgster Widersacher in Bern – und bittet die Schweiz um Hilfe.
Selahattin Demirtas, Chef der prokurdischen Partei HDP, ist auf Einladung der parlamentarischen Gruppe für die Beziehungen zum kurdischen Volk ins Bundeshaus gekommen, wo er von Nationalratspräsidentin Christa Markwalder und Staatssekretär Yves Rossier empfangen wurde. Schon im Vorfeld versahen Medien den Besuch des Kurdenführers mit den Prädikaten «heikel» oder «brisant» – denn er erfolgt in einer kritischen Phase.
Vor rund zwei Wochen hatte Erdogan beschlossen, die Immunität von Demirtas und 137 anderen missliebigen Abgeordneten aufzuheben. Davor hatte der türkische Präsident die Schlagzeilen dominiert, indem er auf verschiedenen Wegen versuchte, kritische Stimmen im Ausland zu unterdrücken – auch in der Schweiz. In Genf machte die türkische Diplomatie Druck auf die Stadtbehörden, damit diese ein Erdogan-kritisches Foto aus einer Ausstellung entfernen. Zudem intervenierte sie bei Nationalräten, die sich kritisch zur Militäroffensive in den kurdischen Gebieten geäussert hatten.
Schweiz soll «Stimme erheben»
Demirtas ruft die Schweiz dazu auf, Ankara die Stirn zu bieten. «Wir spüren aus Europa keine wirksame Kritik an Erdogan», so der Kurdenpolitiker. Der türkische Präsident verfolge im eigenen Land politische Konkurrenten sowie wichtige Journalisten und Akademiker, und im Ausland mische er sich in innerstaatliche Angelegenheiten ein. Trotzdem wage es niemand, ihm entschlossen entgegenzutreten – «aus Angst, den Flüchtlingsdeal zu gefährden». Wenn man ein Zimmer reinigen wolle, nütze es nichts, denn Müll einfach unter den Teppich zu kehren, so Demirtas.
Enttäuscht zeigt er sich insbesondere von Deutschland. Dass das Land nun den Völkermordes an den Armeniern anerkannt hat, sei ein schwacher Trost. Erstens komme der Entscheid vom Bundestag – Angela Merkel selber vermeide es tunlichst, sich im Dialog mit Erdogan zu dieser Frage zu äussern. Und zweitens komme er «hundert Jahre zu spät». Auch von der Schweiz hätte sich Demirtas gewünscht, dass sie «als wichtiges Land der Demokratie» ihre Stimme erhebt. Dem Kurdenführer und seinen Parteikollegen droht nach der Aufhebung der Immunität eine Anklage wegen Unterstützung einer Terrororganisation. In der Partei rätsle man schon, welche Politiker man zusammen in eine Zelle stecken werde, so Demirtas lakonisch.
«Alarmierende Tendenzen»
Für Sibel Arslan, grüne Nationalrätin und Co-Präsidentin der Gruppe für die Beziehungen zum kurdischen Volk, sendet Demirtas mit seinen Schilderungen ein wichtiges Signal aus. Der Bundesrat müsse die Aufhebung der Immunität im türkischen Parlament thematisieren, verlangt Arslan. Schliesslich stünden in Europa bald wichtige Entscheide an: «Neue Abkommen wie die Visumsfreiheit für türkische Staatsbürger im Schengenraum dürfen nur unter der Bedingung geschlossen werden, dass sich die Türkei auch an die europäischen Werte hält.»
FDP-Nationalrätin Doris Fiala, Mitglied des Europarats, findet: «Als neutrales Land sollten wir bemüht sein, gerade in allfälligen Konfliktsituationen beide Seiten anzuhören.» Es dürfe keinesfalls unbedacht Position bezogen werden. Die Tendenzen in der Türkei bereiteten jedoch auch ihr grosse Sorgen, so Fiala. «Nicht nur, dass Erdogan zulässt, dass die Immunität von unliebsamen Politikern fast mit einem Federstrich aufgehoben wird und teilweise Menschenrechte geritzt werden – auch die muslimische Einflussnahme in Europa besorgt mich zutiefst» (siehe Box). Die Meinung von Minderheiten zu kennen sei wichtig, um eine umfassende Risikoanalyse machen zu können.
Doppelte Standards
Fiala räumt ein, im Europarat würden sich manche Mitgliederländer hörbar darüber beklagen, dass in den – gemeinsamen unterzeichneten – Werten rund um Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte doppelte Standards herrschten. «Leider haben im Zuge der Bewältigung der Flüchtlingskrise, bei der die Türkei ein Schlüsselstaat ist, immer weniger Länder den Mut, der immer autoritärer werdenden Türkei entschieden die Stirn zu bieten.»
Die türkische Botschaft in der Schweiz war für eine Stellungnahme nicht erreichbar.
Einflussreiche Religionsbehörde
Die türkische Religionsbehörde Diyanet glorifiziert in Comics den Märtyrertod. Die staatliche Stelle, die direkt dem türkischen Ministerpräsident unterstellt ist, soll auch in der Schweiz Moscheen unterstützen. FDP-Nationalrätin Doris Fiala zeigt sich besorgt. Im Juni will sie in der der sogenannten Monitoring-Kommission des Europarats die Erarbeitung eines Berichts zum Thema zur Diskussion stellen, wie sie im Gespräch mit 20 Minuten ankündigt. In einer Interpellation verlangt die Zürcherin auch vom Bundesrat Antworten zum Thema und insbesondere rund um die Radikalisierungsproblematik und die Aktivitäten von Diyanet in der Schweiz. (jbu)