Tagelang allein zu HauseReiche Eltern lassen ihre Kinder verwahrlosen
Jugendliche sind tagelang allein zu Hause, tragen dreckige Kleider und stören in der Schule: Laut Fachpersonen vernachlässigen viele Eltern ihre Kinder.
Sefika Garibovic ist entsetzt. Die Expertin für Nacherziehung und Konfliktmanagement sagt: «Ich muss etliche verwahrloste Jugendliche nacherziehen. Das macht mir Angst.» Bei Garibovic landen Jugendliche aus besten Verhältnissen. «Die Eltern haben oft Management-Jobs», um die Kinder kümmerten sie sich kaum. «Teilweise sind Jugendliche tagelang alleine zu Hause.» Das hinterlässt Spuren: «Sie haben psychische Probleme und sind verhaltensauffällig.»
Auch andere Fachpersonen beobachten, dass Eltern ihren Nachwuchs zunehmend sich selbst überlassen. Patrick Fassbind, Präsident der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Bern, sagt: «Die Fälle sogenannter Wohlstandsverwahrlosung nehmen zu.» Aber nur die Exzesse erreichten die Kesb. «Vermögende Eltern können eine Meldung bei der Kesb verhindern, weil sie bei Problemen etwa eine Nanny einstellen können.» Auch die Schulen sind gefordert. «Da oft beide Eltern arbeiten, hat sich das Problem verwahrloster Schüler verschärft», sagt Jürg Brühlmann, Geschäftsführer des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer
Mütter springen von Liebhaber zu Liebhaber
«Die Kinderzimmer sehen aus, als würden Junkies darin leben», beschreibt Sefika Garibovic ihre Erlebnisse. Die Kühlschränke seien leer, die Wäsche nicht gewaschen. «Ich habe auch Klienten, die stinken, weil sie tagelang dreckige Kleider tragen und die Eltern ihnen Körperpflege nie beigebracht haben.» Viele Mädchen und Jungen wüssten auch nicht mit Geld umzugehen: «Lehrlinge haben den Lohn in zwei Stunden ausgegeben.»
Laut Garibovic sind die Verhältnisse bei alleinerziehenden Eltern besonders schlimm. Es gebe Mütter, die im Beruf 1000 Angestellte führten, sich aber nicht um ihr Kind kümmerten: «Sie gehen aus oder springen von einem Liebhaber zum nächsten.»
Eltern lassen Lehrer auflaufen
Die chaotischen Zustände bekommen die Lehrer zu spüren. «Die Kinder sitzen oft ständig vor dem TV, haben die Hausaufgaben nicht dabei, sind schlecht ernährt und werden teilweise krank in die Schule geschickt», sagt Jürg Brühlmann. Die Lehrer kämpften mit Schülern, die die Regeln nicht einhielten und ständig auffallen wollten.
Fachleute stehen häufig wie die Esel am Berg. Garibovic sagt: «Die Eltern schieben mir ihre Kinder einfach ab. Sie erscheinen nicht einmal zu den Gesprächsterminen.» Ähnlich geht es den Lehrern. «Es kommt vermehrt vor, dass Mütter und Väter nicht zu Elterngesprächen auftauchen», sagt Jürg Brühlmann.
Arbeitswelt überfordert Eltern
Für Sefika Garibovic ist klar, dass die Eltern das Problem der verhaltensauffälligen Kinder sind. Sie werden aber auch in Schutz genommen. «Die Eltern sind in der Arbeitswelt heute grossem Druck ausgesetzt», sagt Jürg Brühlmann. Fehlten sie am Arbeitsplatz oder lasse ihre Leistung nach, sei die Gefahr einer Kündigung gross.
Maya Cajöri , Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche, sagt, sie berate viele Frauen, die stark unter Druck seien: «Sie sind überfordert, weil sie Karrierefrau, Ehefrau und Mutter sein wollen.»
Viele Eltern plagt aber das schlechte Gewissen. Sie kompensierten ihre Defizite bei ihren Kindern materiell, sagt Kesb-Leiter Patrick Fassbind. «Die zusätzlichen finanziellen Freiheiten verschärfen die Probleme aber – etwa in Form von Konsum-, Party-, Alkohol- oder Drogenexzessen.»