Volkswahl-Initiative«SVP führt eigene Wählerschaft in die Irre»
Happige Vorwürfe gegen die SVP: Die Partei soll ihre Wählerschaft im neuesten «Extrablatt» mit fiktiven Zahlen und einer eigenwillig interpretierten Studie täuschen. Die SVP dementiert.
Die SVP will mit ihrem «Extrablatt» zur Volkswahl des Bundesrates nach eigenen Angaben «zu einer umfassenden Meinungsbildung beitragen» und «die Zusammenhänge zwischen den grossen Herausforderungen für unser Land und der Volkswahl des Bundesrates» aufzeigen. Doch ausgerechnet undurchsichtige Berechnungen und aus dem Zusammenhang gerissene Erkenntnisse einer Studie sorgen nun für Kritik.
So beruft sich die SVP im «Extrablatt» auf eine Studie zur Volkswahl des Bundesrates, die vom Bundesamt für Justiz in Auftrag gegeben wurde. Diese diente dem Bundesrat mitunter als Grundlage, als er die Initiative zur Ablehnung empfahl. Gestützt auf die Untersuchung der Politologen Adrian Vatter, Thomas Milic und Raphael Bucher von der Uni Bern wird behauptet, «dass eine Volkswahl auf Bundesebene problemlos funktionieren und vernünftige Resultate bringen würde».
Studie «eigenwillig interpretiert»
Thomas Milic, Mitautor der Studie, ist überrascht: «Das ist eine Aussage, die man in unserer Studie nicht findet.» Die Studie untersuche, was sich an der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates ändern würde, sollte er vom Volk gewählt werden. Die Auswirkungen auf das politische System würden indes nicht thematisiert, so Milic. So beschäftige sich die Studie beispielsweise nicht mit möglichen Folgen für die Regierungsführung oder für den Wahlkampf. Dennoch heisst es in der SVP-Broschüre, die Studie zeige, «dass sich bisherige Bundesräte nicht einem ‹Dauerwahlkampf› stellen müssten».
«Wir hätten sicherlich eine andere Schlagzeile gewählt, um die wichtigsten Erkenntnisse unserer Studie in einem Satz zusammenzufassen. Es wurden selektiv einige empirische Befunde aufgegriffen und diese dann relativ eigenwillig interpretiert», erklärt Milic.
SVP-Präsident Toni Brunner kontert: «Diese Studie fand keinen Beweis dafür, dass eine Volkswahl auf Bundesebene nicht funktionieren würde. Wir stehen deshalb voll und ganz hinter dem Inhalt unseres Extrablattes.»
«Wählerschaft wird getäuscht»
Doch auch von einer anderen Seite wird Kritik gegen das «Extrablatt» laut. «Die SVP führt ihre eigene Klientel in die Irre», warnt Politologe Michael Hermann, der selbst zu den Befürwortern der Initiative zählt. Stein des Anstosses ist eine Berechnung, die die Partei auf Seite vier ihres Extrablattes durchführt. Am Beispiel einer Regierungsratswahl im Kanton Schwyz soll dort aufgezeigt werden, wie das vorgesehene Wahlsystem bei einer Volkswahl des Bundesrates funktionieren würde.
27,5 Prozent der Stimmen würden demnach reichen, um das absolute Mehr bei einer Bundesratswahl zu erreichen, so die Rechnung der SVP. Zufälligerweise entspricht diese Zahl fast dem nationalen Wähleranteil der Partei. «Die verwendete Zahl 27,5% suggeriert, dass die SVP-Wähler praktisch ohne Fremdstimmen ihren eigenen SVP-Bundesrat wählen könnten», schreibt Hermann in seinem Blog. Zudem werde der Anschein erweckt, dass mit dem Erreichen des absoluten Mehrs auch gleich ein Regierungssitz gewonnen werde.
Absolutes Mehr reicht nicht für Sitz
In Realität ist dem aber nicht so. Denn beim Wahlsystem, das die Initiative vorsieht, handelt es sich um eine Majorzwahl, bei der leere Linien auf Wahlzetteln nicht mitgezählt werden. «Bei diesem Modell ist die Hürde so tief, dass sie meist von allen Kandidierenden mit realistischen Wahlchancen problemlos genommen wird», so Hermann. Will heissen: Auch Kandidaten, die nicht in die Regierung gewählt werden, erreichen oft das absolute Mehr – werden aber als «überzählig ausgeschieden», wie es im Fachjargon heisst. Im Extrablatt steht davon aber nichts.
Für zusätzlich Verwirrung sorgt die Herkunft der von der SVP verwendeten Daten. Denn die Zahlen, die unter der Überschrift «Rechenbeispiel Kanton Schwyz» und einem Schwyzer Wappen aufgeführt sind, stammen nicht aus einer echten Wahl. «Das verwendete Zahlenbeispiel ist fiktiv», hält Hermann fest. Der Politologe hat nachgerechnet: Bei den letzten Regierungsratswahlen im Kanton Schwyz lag das absolute Mehr bei 31,5 Prozent. Einen Wahlsieg durften Kandidaten mit diesem Stimmenanteil aber noch lange nicht feiern: Damals erreichte selbst ein nichtgewählter Kandidat 39,6 Prozent der Stimmen.
Dass nicht deklariert wird, dass es sich um fiktive Zahlen handelt, stellt für Hermann eine «totale Unterlassung» dar. Auch sei die Behauptung der SVP, dass das gewählte Majorz-Modell einer Proporzwahl nahekomme, schlicht und einfach falsch. «Das Extrablatt betreibt keine Aufklärung, sondern trägt zur staatspolitischen Desinformation bei», konstatiert der Politologe.
«Wer ein Haar in der Suppe suchen will…»
Für den SVP-Parteipräsidenten Toni Brunner ist der Vorwurf, man wolle die Wähler in die Irre führen, geradezu absurd: «Es geht im Gegenteil darum, die Wähler zu informieren.»
Die Zahlen seien zwar tatsächlich fiktiv – jedoch aus einem guten Grund. Es gehe darum, mit schönen, runden Zahlen zu erklären, wie das vorgesehene Majorz-Wahlsystem funktioniert.
Der Kanton Schwyz sei nur als Beispiel gewählt worden, weil dort die Regierung nach dem Modell gewählt wird, das bei einer Annahme der Initiative in die Verfassung festgeschrieben würde. Die Überschrift und das Schwyzer Wappen sollen demnach nicht suggerieren, dass die Daten tatsächlich aus dem Zentralschweizer Kanton stammen, sondern nur das Beispiel illustrieren. «Wer ein Haar in der Suppe suchen will, kann das natürlich tun. Eigentlich ist es aber sonnenklar, dass es sich hier nur um ein Anschauungsbeispiel handelt.»
Schon einmal Zahlen-Chaos
Es ist nicht das erste Mal, dass die SVP durch fragwürdige Berechnungen auffällt: Erst vor einem guten Monat gerieten die Partei-Aushängeschilder Christoph Mörgeli und Christoph Blocher in die Schlagzeilen, weil sie behaupteten, dass jeder zweite Asylsuchende kriminell sei. Es stellte sich jedoch heraus, dass Nationalrat Mörgeli Zahlen «falsch abgeschrieben» hatte. In Wirklichkeit lag die Zahl der kriminellen Asylsuchenden bei neun Prozent.
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