Homosexuelle Migranten«Vater hätte lieber Krebs als einen schwulen Sohn»
Wie leben türkische oder kosovarische Schwule in der Schweiz? Zwei Männer erzählen.

Weil der Libanese Nasser El-A. schwul ist, wurde er von Mitgliedern seiner Familie misshandelt und entführt.
Die Geschichte des heute 18-jährigen Libanesen Nasser El-A. schlug hohe Wellen. Nasser wollte so sein, wie er ist: schwul. Seine konservative Familie konnte das aber nicht akzeptieren. Sie betrachtet Homosexualität als Sünde und Schande für die ganze Familie. Deshalb misshandelten und entführten sein Vater und zwei Onkel den damals minderjährigen Jungen im Dezember 2012 für zwei Tage. Die Männer wollten ihn in Libanon mit einem Mädchen zwangsverheiraten. Erst an der bulgarisch-rumänischen Grenze wurden sie gestoppt.
Schätzungen zufolge sind 4 bis 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung schwul, bisexuell oder lesbisch. Unter ihnen sind auch Einwanderer, die wie Nasser aus konservativen Familien stammen. 20 Minuten hat sich mit zwei Homosexuellen aus dem Kosovo und der Türkei unterhalten.
Erkan Yalcin*, 34: «Mein Vater hätte lieber Krebs als einen schwulen Sohn»
Erkan Yalcin lebt in der Region Zürich und ist im Gesundheitswesen tätig. «Ich spürte bereits im Kindergarten, dass ich anders bin», so Yalcin. So richtig schwierig wurde es dann in der Pubertät: «Ich hatte Angst, was meine türkischen Kollegen sagen könnten, wenn sie es merken würden», so der 34-Jährige. «Würden sie mich ausgrenzen oder gar schlagen?» Auch habe er sich in dieser Zeit für seine Gefühle geschämt. «Die Sexualität allein ist schon intim», so Yalcin. «Wenn dann noch etwas anderes hinzukommt oder schiefläuft, dreht man durch.» Deshalb habe er sich zurückgezogen und in einer eigenen Welt gelebt.
Um den ständigen Fragen seiner Mutter nach einer Freundin und dem damit verbundenen Stress zu entgehen, reiste der damals 19-Jährige für einen sechsmonatigen Sprachaufenthalt nach Kanada. «Am Tag meiner Heimkehr in die Schweiz habe ich es dann meiner Mutter erzählt», so Yalcin. «Sie war so traurig und hat geweint.» Auch habe sie ihm gesagt: «Wenn das dein Vater hört, wird es sein Herz brechen.» Am nächsten Tag habe dieser erst geschrien und dann auch geweint: «Er sagte mir, es wäre für ihn viel einfacher gewesen, ein Bein zu verlieren oder Krebs zu bekommen, als zu hören, dass sein Sohn schwul sei», so Yalcin.
Zwar habe es über zehn Jahre gedauert, schlussendlich hätten seine Eltern akzeptiert, dass ihr Sohn homosexuell ist. «Ich hatte Glück», so Yalcin. «Nun kann ich meinen Freund auch mit nach Hause nehmen.» Nur weil es aber seine Eltern wissen, würde er es nicht gleich allen zeigen: «Tante, Onkel und andere sollen es nicht erfahren.» Deshalb würde er mit seinem Freund auch niemals Händchen haltend in der Türkei spazieren gehen. «In der Schweiz kann ich das überall tun», so Yalcin. «Aber auch hier schauen die Menschen uns manchmal fassungslos an oder Kinder zeigen mit dem Finger auf uns. Auch hier gibt es Schwulenhasser.»
Don Alijaj*, 24: «Im Kosovo haben Schwule kaum Möglichkeiten, Gleichgesinnte zu treffen»
«Mit 16 spürte ich, dass ich anders bin», erzählt der Kosovare Don Alijaj, der in der Region Basel lebt. «Ich begann, anderen Jungs hinterherzuschauen und sie attraktiv zu finden.» Irgendwann einmal habe er aus Neugier Pornos mit Homosexuellen angeschaut und gemerkt, dass sie ihn erregten. Daraufhin habe er begonnen, auf verschiedenen Seiten zu chatten und kam so mehr und mehr in Kontakt mit homosexuellen Männern. «Ich wollte für mich selber herausfinden, wie ich empfinde», so Alijaj. «Deshalb habe ich mich mit einer Internet-Bekanntschaft getroffen.»
Da es sich aber für ihn so falsch anfühlte, hörte er mit diesen Treffen auf und begann wieder Frauen zu daten. Bis ihn dann seine Freundin vor die Wahl stellte: «Entweder heiratest du mich oder wir trennen uns.» Alijaj trennte sich von ihr: «Die Enttäuschung war so gross, dass ich nie wieder Frauen treffen wollte.» Durch diese neue Situation sei seine Neigung plötzlich wieder präsenter gewesen. «Ich will nicht sagen, dass ich meine Gefühle während der Zeit mit ihr ganz vergessen habe», so Alijaj. «Nur wollte ich sie nicht zulassen, weil ich sie damals als falsch und krank empfand.» Laut Alijaj habe es lange gedauert, bis er sich selber so annehmen konnte, wie er ist.
Alijaj hat sich aber noch nicht geoutet: «Ich traue mich nicht, weil ich Angst vor der Reaktion meiner Eltern habe.» Er ist sich sicher, dass sie ihn verstossen würden. «Das Gesicht der Familie zu bewahren, ist das A und O bei uns. Ich möchte meiner Familie keine Schande bereiten.» Unter seinen Landsleuten gebe es zwar viele Homosexuelle – kaum einer habe sich aber geoutet, so Alijaj weiter.
Trotzdem sei es für homosexuelle Kosovaren in der Schweiz einfacher als in der Heimat: «Im Kosovo haben Schwule kaum Möglichkeiten, Gleichgesinnte zu treffen. Dort werden Schwule als ekelhaft empfunden und man ist sich sicher, dass sie alle Aids haben.» In der Schweiz hingegen treffe er auf Gay-Partys viele seiner Landsleute, die homosexuell sind. «Sie müssen das auch vor ihrer Familie verheimlichen.» Viele von ihnen würden deshalb eine «zurückgebliebene» Frau aus dem Kosovo heiraten und in die Schweiz bringen. «Die Frauen sitzen dann ahnungslos zu Hause, während der Mann seine Sexualität frei ausleben kann.» Mit wem er seine Zukunft verbringt, ist noch nicht klar: «Männer geben mir Befriedigung», so Alijaj. Damit er seinen Eltern aber die lang ersehnten Enkel schenken könne, müsse er wohl eine Frau heiraten.
* Namen der Redaktion bekannt

Interview mit Bastian Baumann, Geschäftsleiter von Pink Cross Schweiz.
Wie viele homosexuelle Kosovaren oder Türken melden sich bei Ihnen?
Pro Monat sind es zwei. Sie kommen aber nicht persönlich vorbei. Es sind vor allem Anfragen per Mail, die uns erreichen. Dabei geht es vor allem um Fragen rund um das Coming-out.
Was haben sie denn für Schwierigkeiten?
Viele von ihnen können ihre Sexualität nicht frei ausleben. Sie müssen ihre Gefühle verstecken. Meistens wissen sie auch nicht, wie und ob sie sich outen sollen.
Wieso ist das so?
Gerade Länder wie der Kosovo und die Türkei sind auch heute noch konservativ geprägt. Für uns veraltete Familienmodelle und die Rolle des Mannes sowie religiöse Forderungen sind dort anders oder stärker verbreitet als bei uns. Während Homosexualität in Kosovo weiterhin kaum akzeptiert ist, bilden sich in Istanbul Subkulturen - teilweise offen, häufig aber versteckt. Dadurch entsteht eine Mischung aus Offenheit und Diskriminierung. Diese Doppelmoral macht es schwierig, sich dort offen zu zeigen.
Wie steht es um homosexuelle Ausländer in der Schweiz?
Hier bietet sich ihnen die Chance, sich dennoch zu finden. Da die Schweiz im Gegensatz zu diesen beiden Ländern toleranter ist und keine rechtlichen Schranken bezüglich Homosexualität kennt, kann es für sie hier einfacher sein, offen schwul zu sein. Doch viele von ihnen erleben auch hier Schranken: Sie bleiben weiterhin in ihren kulturell eher konservativ geprägten familiären Strukturen und können so nicht offen zu ihrer Sexualität stehen. Das wiederum schränkt ihre Freiheit ein.