AmbivertiertIm Beruf ein Angeber, zu Hause tief verunsichert
Menschen, die sich am liebsten in ihrer Wohnung verkriechen würden, glänzen mit Extrovertiertheit. Fachleute haben vermehrt mit solchen Ambivertierten zu tun.
Ob in der Schule, im Beruf oder an Partys: Sie haben eine laute Klappe, strotzen vor Selbstbewusstsein und stehen ständig im Mittelpunkt. Privat aber igeln sie sich voller Selbstzweifel zu Hause ein. Die Rede ist von Ambivertierten. So beschreibt die amerikanische Persönlichkeitstrainerin Vanessa Van Edwards Menschen, die weder extro- noch introvertiert sind. «Die meisten sind etwas dazwischen», erklärt sie in der TV-Talkshow «AM Northwest». Das Verhalten passe sich der jeweiligen Situation an.
Auch Schweizer Fachpersonen bemerken, dass Ambivertiertheit eine verbreitete Eigenschaft geworden ist. «Heute zieht man täglich eine Verkaufsshow ab, ist aber zutiefst verunsichert», sagt Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier. Viele Menschen spielten eine Rolle, um vor anderen gut dazustehen.
«Wer Erfolg haben will, muss Eindruck schinden»
Auch Persönlichkeitscoach Jacinda Sroka fällt auf: «Wir verstellen uns wohl, weil die Gesellschaft fordert, dass wir uns auf bestimmte Art und Weise präsentieren.» Manchmal werde auch geblufft. Persönlichkeitscoach Simone Hensch berichtet, dass sich viele ihrer Klienten als zurückhaltend und schüchtern bezeichnen. «Sie wollen ihren erfolgreichen Kollegen nacheifern, die ‹immer so selbstsicher› auftreten.»
«Wir leben in einer Selbstdarstellergesellschaft», sagt Heinzlmaier. Wer beruflich Erfolg haben wolle, müsse Eindruck schinden können. Laut Hensch zwingt eine berufliche Funktion Angestellte teilweise dazu, ein Verhalten an den Tag zu legen, das gegen ihre Natur ist. Erwartet werde dann, dass sie kommunikativ seien, den Smalltalk perfekt beherrschten und sich von der Siegerseite präsentierten. «Dabei sind diese Menschen wortkarg und ziehen sich, sobald sie können, zu Hause zurück.»
Laut Heinzlmaier bekommen gerade junge Menschen das extrovertierte Verhalten schon früh eingetrichtert. «Sie lernten, dass Form wichtiger ist als Inhalt.» So prahlten sie bei Verwandten und Freunden etwa sofort damit, wenn sie gute Schulnoten schrieben. Gemäss Sroka zeugt dies von tiefer Unsicherheit. «Zu erzählen, wie gut die Leistungen sind, heisst doch nur: ‹Magst du mich so, wie ich bin?›.»
«Moderne Form der Selbsterniedrigung»
Ambivertierte wählen laut den Experten ihr äusseres Erscheinungsbild mit Bedacht aus. «Gerade junge, unsichere Menschen betonen oft körperliche Attribute», sagt Hensch. Die jungen Frauen rückten ihre weiblichen Merkmale wie Brüste und Lippen in den Vordergrund. «Dazu tragen sie sehr lange Haare und grosse Ohrringe.» Die jungen Männer wollten ihre Männlichkeit mit einem trainierten Body und Muskeln unter Beweis stellen. Heinzlmaier beobachtet, dass sich Unsichere oft mit krampfhafter Individualität von anderen abzuheben versuchen. Davon zeugten extreme Tattoos und groteske Frisuren.
Psychoanalytiker Peter Schneider kritisiert das unehrliche Auftreten: «Dass man sich heute für den Erfolg vielfach selbst verbiegen muss, ist eine moderne Form von Selbsterniedrigung.» Paradox sei, dass den jungen Menschen gleichzeitig ständig gepredigt werde «sei du selbst».
Hensch rät Introvertierten davon ab, sich mit Extrovertieren zu vergleichen. Um erfolgreich zu sein, solle man sich sehr gut kennenlernen und die eigenen Stärken betonen. Und Schneider meint: «Nichts ist unerträglicher als jemand, der vor Selbstsicherheit strotzt.»