«Die Jugend ist verweichlicht»

Aktualisiert

Leistung und Disziplin«Die Jugend ist verweichlicht»

«Hört auf zu heulen», fordert Christian Ortner in seinem neuen Buch. Im Interview erklärt er, warum Kinder, Junge, Arbeitnehmer und Politiker härter im Nehmen werden müssen.

von
D. Pomper
Der österreichische Autor Christian Ortner glaubt, dass Jugendliche schlechter mit Niederlagen und Verlusten umgehen können.

Der österreichische Autor Christian Ortner glaubt, dass Jugendliche schlechter mit Niederlagen und Verlusten umgehen können.

Herr Ortner, in Ihrem Buch beklagen Sie die Verweichlichung der Gesellschaft, Politik und Wirtschaft im deutschsprachigen Raum Europas. Stellen Sie in gewissen Punkten auch eine Verweichlichung an sich selber fest?

Ich versuche dagegen anzukämpfen.

Wann hat dieser Prozess den begonnen?

US-Präsident John F. Kennedy stellte einst die Frage: «Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage dich, was du für dein Land tun kannst.» Ich glaube, kein Staatsoberhaupt Europas würde sich heutzutage getrauen, so etwas zu sagen.

Seit den 70er Jahren sind die Sozialleistungen dramatisch angestiegen. Der Wähler hat sich daran gewöhnt, dass er sich nur auflehnen und sich als Opfer darstellen muss und ihn der Staat dafür mit Geld belohnt. Die Weinerlichkeit der Bevölkerung ist stark fortgeschritten.

Bereits Kinder seien verweichlicht, behaupten Sie. Warum?

Ich habe den Eindruck, dass viele Eltern in bester Absicht versuchen, ihre Kinder von allen Schwierigkeiten fernzuhalten, ihnen wenig zutrauen und sie dauernd loben. Doch so erziehen sie sie zu schwachen Menschen, die bei Herausforderungen aufbegehren und wenig Ehrgeiz an den Tag legen.

In meinem Buch schildere ich den Fall eines 9-jährigen Kindes, das erstmals mit der U-Bahn fährt. Es brach ein Shitstorm aus – den Eltern wurde vorgeworfen, ihr Kind in Gefahr gebracht zu haben. Natürlich kann immer etwas passieren. Aber ein Kind muss lernen, mit schwierigen Situation umzugehen.

So wie es die Tiger Mums machen?

Genau. Asiatische Eltern erziehen ihre Kinder ganz anders. Im Gegensatz zu uns legen sie bei der Erziehung grossen Wert auf Leistung und Disziplin. Lernt das Kind ein Instrument, muss es auch üben, wenn es keine Lust dazu hat. Dafür wird es später mit einem Erfolgerlebnis belohnt. Das Kind lernt also: Wenn ich mich anstrenge, zahlt sich das aus. Das ist bei uns leider nicht mehr oft der Fall.

Mit der Konsequenz?

Mit der Konsequenz, dass eine verweichlichte Jugend heranwächst. Ich schildere ihnen einen konkreten Fall: Ein junger Journalist hat sich öffentlich darüber beklagt, als er eine Praktikumsstelle nicht bekam. Er sei noch nie so respektlos und miserabel behandelt worden, schrieb er. Er sei wütend, enttäuscht und es tue «verdammt weh». Eine solche Reaktion muss als intellektuelle Verweichlichung gedeutet werden. Einer Unfähigkeit also, erhebliche Anstrengungen zu unternehmen, Niederlagen oder Verluste hinzunehmen und eine gewisse Schmerzresistenz gegenüber den Zumutungen und Ungerechtigkeiten des menschlichen Daseins.

Es werden gleichgültige Jugendliche herangezogen, die sich auf die Eltern und den Staat verlassen. Ehrgeiz und Leidenschaft erlöschen. Dies hat auch Auswirkungen auf unsere Konkurrenzfähigkeit gegenüber Asien. Was passiert, wenn der «Magister Narziss», der nicht vor dem Rentenantritt aus dem Hotel Mama ausziehen will, auf den Weltmärkten gegen junge Chinesen antritt, die von ihren Tiger Mums auf Leistung getrimmt worden sind?

Bereits jetzt arbeitet man in Deutschland und Österreich 1400 bis 1600 Stunden pro Jahr. In Südkorea 2200. Das sagt ja schon alles.

Aber das Leben ist für Jugendliche doch tatsächlich härter geworden. Der Leistungsdruck in der Schule steigt, trotz Studienabschluss hangeln sie sich von Praktikum zu Praktikum, sie wissen nicht, ob ihre Renten gesichert sind …

Ich glaube eher, dass eine verweichlichte Gesellschaft weniger gut mit neuen Herausforderungen umgehen kann.

Erkanken also immer mehr Menschen an Depressionen oder Burnouts, weil sie zu schwach sind und nicht, weil der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft steigt?

Menschen in den 50er Jahren waren mit härteren Lebens- und Arbeitsbedingungen konfrontiert und erkrankten wohl nicht häufiger an Depressionen und Burnouts. Heute aber gibt es einen Sturm der Entrüstung, wenn Lehrer statt 22 Stunden 24 Stunden arbeiten sollen, wie das in Österreich gerade der Fall ist. Wir leben einfach in einer Gesellschaft, die weniger bereit ist, Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen und immer mehr fordert, anstatt die Ärmel hochzukrempeln. Diese «Beanspruchmentalität» macht sich in allen Bereichen bemerkbar: sei es bei den Bauern oder den Künstern, die nur ihr Leid zu beklagen brauchen, und der Staat sie dafür mit Subventionen belohnt.

Warum ist das schlecht?

Weil man damit anderen Geld wegnimmt. Würde man die Subventionen zurückfahren, könnte man damit die Steuerzahler entlasten. Auch die Kassiererin und der Tischler würden davon profitieren. Künstler und Bauern haben keinen moralischen Anspruch auf Subventionen.

In der Schweiz stimmen wir nächstes Jahr über die Mindestlohninitiative und ein bedingungsloses Grundeinkommen ab. Sind auch diese Initiativen von der «Beanspruchmentalität» getrieben?

Ja. Ich stelle zunehmend eine «Politik der Gefühle» anstelle einer «Politik der Fakten» fest. Wenn sie einem Bettler zehn Franken in die Hand drücken, fühlen sie sich besser, als wenn sie ihm einen Stellenanzeiger geben – obwohl es ihm mehr nützte. Wenn sie sich für einen höheren Lohn für die Frau an der Migroskasse einsetzen, fühlt man sich gut – auch wenn der Mindestlohn nachweislich Arbeitsplätze vernichtet. Das gleiche in der Entwicklungshilfe: Alte Kleider zu spenden fühlt sich gut an – auch wenn man dadurch die afrikanische Textilindustrie zu Grunde richtet.

Die Errichtung des Sozialstaats beruht aber auch ein grosses Stück weit auf einer «Politik der Gefühle». Es ist doch eine Errungenschaft, wenn in Ländern wie der Schweiz, Österreich oder Deutschland Arme, Alte, Behinderte oder Arbeitslose nicht auf der Strasse leben müssen.

Natürlich ist der Sozialstaat eine der grössten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Aber die Frage ist, ob wir ihn weiter behalten können, oder ob er zusammenbricht, wenn man ihn weiter ausbaut. Der Sozialstaat muss redimensioniert werden, damit er überleben kann. Das hat übrigens überraschenderweise kürzlich sogar der holländische König an seiner ersten Thronrede gesagt und für mehr Eigenverantwortung plädiert.

Herr Ortner, beim Lesen ihres Buches hat man ein bisschen das Gefühl, dass früher alles besser war …

Ich bin 55 Jahre alt. In meinem Alter darf man das.

Christian Ortner ist Autor und Kolumnist bei den Tageszeitungen «Die Presse» und «Wiener Zeitung». Davor war er unter anderem Chefredakteur der «Wirtschaftswoche Österreich». Ortner vertritt wirtschaftsliberale Positionen. Sein Buch «Hört auf zu heulen. Warum wir wieder härter werden müssen, um unseren Wohlstand und unsere Lebensart zu schützen» erscheint am 24. November.

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