«Dann können wir gleich mit ‹Dublin› aufhören»

Aktualisiert

EGMR-Urteil«Dann können wir gleich mit ‹Dublin› aufhören»

Die Schweiz darf eine afghanische Familie nicht nach Italien abschieben. Das unterstütze die Aushebelung des Dublin-Abkommens, sagen Kritiker.

Vroni Fehlmann
von
Vroni Fehlmann
Maximilian Reimann (SVP) sieht das Urteil als klaren Verstoss gegen das Dublin-Abkommen.

Maximilian Reimann (SVP) sieht das Urteil als klaren Verstoss gegen das Dublin-Abkommen.

Eine afghanische Familie hat sich gegen die Überführung nach Italien gewehrt, weil dort prekäre Zustände im Asylwesen herrschten. Mit ihrer Beschwerde ging sie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser hat ihr jetzt Recht gegeben und ein Veto gegen die bedingungslose Abschiebung nach Italien eingelegt. Die Schweiz müsse individuelle Garantien für die Unterbringung und Betreuung der Familie einholen. Andernfalls wäre das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verletzt, so das Urteil.

SVP-Nationalrat Maximilian Reimann sieht das Urteil als Affront gegen die Schweiz. «Es ist für mich wie für viele andere Schweizer Bürger stossend, dass ein letztinstanzliches Urteil aus der Schweiz einfach nach Strassburg weitergezogen werden kann.» Ausserdem bestehe der Gerichtshof grösstenteils viel zu sehr aus Völkerrechtsprofessoren, die zu weit von der Alltagspraxis entfernt seien. «Diese ‹Nicht-Richter› schweben im völkerrechtlichen Himmel», so Reimann. Schliesslich sei das Urteil auch ein klarer Verstoss gegen das Dublin-Abkommen. «Dann könnten wir doch gleich mit ‹Dublin› aufhören.»

«In Italien lässt es sich erträglich wohnen»

Reimann sieht ein, dass Italien eine grosse Last trägt, was das Asylwesen betrifft. Er findet aber: «In Italien lässt es sich doch auch erträglich wohnen. Auf dem Land gibt es genügend leere Wohnungen. Doch das passt wohl vielen Asylbewerbern nicht.»

Der SVP-Nationalrat will, dass nun klare Verhältnisse geschaffen werden. Das soll die SVP mit der Initiative «Schweizer Recht geht fremdem Recht vor» erreichen, die sie derzeit prüft. Sie soll verhindern, dass fremde Richter sich [...] über legitime Schweizer Interessen hinwegsetzen, welche rechtlich abgesichert sind. «Damit wären all diese Fälle vom Tisch.»

Flüchtlingshilfe fordert Rückführungs-Stopp

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) sieht ihre eigenen Einschätzung durch das Urteil bestätigt. In einem Bericht vom Oktober 2013 hielt die Organisation fest, dass die Aufnahmestrukturen beim Schweizer Nachbarn teilweise unangemessen sind und fehlen.

Ein besonderes Augenmerk wirft die SFH auf die Kleinsten unter den Flüchtlingen: «Der Gerichtshof erachtet die Aufnahmebedingungen für Kinder als menschenunwürdig. Die SFH fordert deshalb einen sofortigen Stopp der Rückführungen von Familien nach Italien, bis sich die dortigen Verhältnisse nachhaltig gebessert haben.»

Droht jetzt eine Beschwerden-Schwemme?

Dass der Europäische Gerichtshof nun mit Beschwerden von Asylsuchenden überschwemmt wird, glaubt Migrationsexperte Peter Frei nicht. «Jeder kann klagen, wenn er Gründe dafür hat. Man kann aber nicht einfach sagen ‹Mir geht es schlecht› und bekommt damit Recht. Solche Fälle werden immer abgeklärt.»

Trotzdem ist Frei über das Urteil nicht überrascht. Der Gerichtshof urteile nach menschenrechtlichen Standards, nicht nach politischen Wünschen. «In Italien leben die Asylbewerber teilweise unter Brücken und draussen. Das sind teils unhaltbare Zustände.» Die Urteilsbegründung des EGMR sei keine Erfindung. Frei, der selbst als Rechtsanwalt tätig ist, hatte selbst schon Fälle, in denen sich Flüchtlinge gegen eine Rückweisung nach Italien gewehrt hatten.

Der Migrationsexperte schaut trotz des Urteils optimistisch in die Zukunft: «Italien macht, was es kann. In letzter Zeit hat sich die Situation jedenfalls enorm verbessert.»

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