Besinnung im BundeshausWenn Politiker gemeinsam beten
Politisch sind sie Konkurrenten und bekämpfen sich im Rat. Doch es gibt einen Moment, wo die Parlamentarier gemeinsam innehalten: An der wöchentlichen Besinnung.
Es ist der letzte Mittwoch in der Wintersession, kurz vor Weihnachten. Auf den Dächern des Bundeshauses liegt eine dünne Schneedecke, immer noch tanzen kleine Flocken vom wolkenverhangenen Himmel herab. Im Bundeshaus ist es morgens um 7.30 Uhr noch angenehm ruhig. In der Wandelhalle, wo sonst Politiker, Lobbyisten und Medienleute hektisch auf und ab gehen, rollen die Reinigungskräfte ihre Putzwagen langsam über die Parkettböden. In der Eingangshalle bestaunen erste Besucher den 14 Meter hohen, mit goldenen Kugeln geschmückten, Tannenbaum.
Besinnlich ist die Stimmung nicht nur rund um den Weihnachtsbaum, sondern auch im Kommissionszimmer 287. Auf dem Tisch am oberen Ende des schmucken Saals mit einem grossen Bild von Albert Anker an der Wand steht ein festliches Blumengesteck mit roten Christsternen. Während Pfarrer Alfred Aeppli Weihnachtskarten mit dem Sujet einer strahlender Sonne auf den Tischen verteilt, begrüsst sein Kollege, Pfarrer Beat Kunz die Parlamentarier, die zur Türe hereinkommen mit einem herzlichen Händedruck. «Schön, sind sie da, Herr Ineichen», «Willkommen bei der Besinnung, Herr Candinas», «Guten Morgen Herr Nussbaumer.» Wenige Minuten später, um 7.45 Uhr, sitzen rund 15 Parlamentarier aus der SP, CVP, EVP und FDP in aller Stille auf ihren Stühlen und warten darauf, dass Pfarrer Kunz, der in seinem dunkelgrauen Anzug ebenfalls wie ein Politiker aussieht, das Wort ergreift.
Besinnung seit 32 Jahren
Beim Zusammentreffen von Politikern und Kirchenvertretern an diesem winterlichen Morgen handelt es sich allerdings nicht um eine weihnachtliche Besonderheit, sondern um eine langjährige Tradition im Parlamentsbetrieb. Schon seit 32 Jahren findet jeden Mittwoch während der Session um 7.40 Uhr eine solche Besinnung statt. «Hier ist der Boden wichtiger, als der Unterschied in politischen Überzeugungen», steht auf der Einladung, die den Politikern am Vortag aufs Ratspult gelegt wurde.
Für CVP-Ständerat Peter Bieri, der als Vertreter der Überkonfessionellen Gruppe der Bundesversammlung den Anlass mitorganisiert, ist klar: «Die Besinnung ist jeweils ein besonders schöner Moment innerhalb der Tätigkeit im Parlament.» Für einen kurzen Moment würden sich Politiker aus verschiedenen Fraktionen aus der Hektik des Ratsbetriebes lösen, um gemeinsam innezuhalten. «Wir brauchen solche Auszeiten», ist er überzeugt. Ähnlich sieht es der Baselbieter SP-Nationalrat Eric Nussbaumer. «Es tut einfach gut, während der Session mal etwas zu hören, was nicht direkt mit Politik zu tun hat.» Die Besinnung sei deshalb ein idealer Ort, um kurz abzuschalten.
«Was ist uns gelungen»
Tatsächlich scheinen sich die Politiker während der knappen viertel Stunde zu entspannen. Einige haben die Augen geschlossen, andere ihre Hände gefaltet und manche schauen konzentriert Richtung Pfarrer Kunz, während dieser seine Gedanken zum Jahresende vorträgt. «Was ist uns gelungen, wann hatten wir es gut? Was haben wir erreicht und wo wurden wir enttäuscht», fragt er in die Runde. «Kurz vor dem Ende des Jahres 2011 wollen wir das alte Jahr bewusst in die treuen Hände Gottes zurücklegen», fährt er fort. All die schönen und auch die schwierigen Erfahrungen, die einem geschenkt wurden, könne man nun loslassen. Bei diesen Worten nickt FDP-Nationalrat Otto Ineichen.
Obwohl sich der Unternehmer als «Sonntagskatholik» bezeichnet, ist der Glaube für ihn wichtig: «Bei Schicksalsschlägen, aber auch bei Niederlagen, die ich als Unternehmer ab und zu erlebe, muss ich irgendwo Kraft holen.» Privat besucht er gerne kleine Kappellen rund um seinen Wohnort im luzernischen Sursee. «Bei meinen Velotouren mache ich immer wieder bei einer Kapelle halt, setze mich hin und versuche einfach abzuschalten.» Auch für SP-Nationalrat Nussbaumer gehört der Glaube - oder vielmehr «eine gewisse Spiritualität» -zum Leben dazu. Dennoch schafft es der 51-Jährige, der selbst in einer Kirchengemeinde aktiv ist, nicht immer zur Besinnung. «Am Dienstagabend kicke ich jeweils für den FC Nationalrats. Dann ist es manchmal hart, am nächsten Morgen so früh aufzustehend», sagt er und schmunzelt.
Menschen in Mittelpunkt stellen
Früh auf den Beinen zu sein, ist sich Pfarrer Kunz hingegen gewohnt. Doch selbst nach zehn Jahren, in denen er bereits Besinnungen im Parlament mitgestaltet, sind sie für ihn immer noch ein spezielles Erlebnis. «Die Arbeit hier erlaubt mir, einen Blick in eine andere Welt zu werfen», sagt der reformierte Pfarrer, der normalerweise in Sutz-Lattringen bei Biel seine Predigten hält. Auch sein Pfarrkollege Alfred Aeplli schätzt den Austausch zwischen Politik und Glaube. «Vielleicht können wir den Politikern vielleicht den einen oder anderen Denkanstoss für ihre Arbeit mitgeben.»
Der neu gewählte Bündner CVP-Politiker Martin Candinas, der die Besinnung an diesem Mittwoch das erste Mal besucht, vesucht, gewisse christliche Werte auch in die Politik zu tragen. «Für mich steht beispielsweise der Mensch immer im Mittelpunkt – ob es nun in der persönlichen Debatte oder bei Sachvorlagen ist», sagt der 31-jährige Familienvater, für den Religion nicht bedeutet, regelmässig in die Kirche zu gehen. Auch EVP-Nationalrätin Marianne Streif findet, dass es durchaus Schnittpunkte zwischen Glaube und Politik gebe. «Es sollte auch in der Politik um Gerechtigkeit und Nächstenliebe gehen», sagt die Zürcherin, die sich politisch unter anderem für die Religionsfreiheit engagiert.
«Vor 17 Jahren war Saal noch voll»
Obwohl die Predigt an diesem Mittwoch von den Worten «Gott» geprägt ist und am Schluss auch gemeinsam gebetet wird, betonen die Pfarrer und die Veranstalter, dass sie mit der Besinnung alle Parlamentarier ansprechen wollen. «Ausser den Medien, die normalerweise keinen Zutritt haben, sind alle willkommen», sagt Aeppli und lächelt. Ständerat Peter Bieri würde sich wünschen, noch ein paar Ratskollegen mehr jeweils am Mittwochmorgen im Zimmer 287 anzutreffen. «Vor 17 Jahren war dieser Saal hier noch voll», sagt er etwas wehmütig bei der Verabschiedung kurz vor 8 Uhr und fordert die Anwesenden zugleich auf, ihre Parteikollegen doch auch für die Besinnung zu begeistern. «Nun wünsche ich aber allen ganz frohe Weihnachten und schöne Festtage.»