Aktuell viele FälleAuch Männer werden Opfer von Zwangsheirat
Junge mit Migrationshintergrund werden im Sommer oft im Herkunftsland zwangsverheiratet. Betroffen sind nicht nur Mädchen.

Vor allem Familien aus Sri Lanka und vom Balkan sind in der Schweiz von Zwangsheiraten betroffen.
Sommerferien sind für die meisten eine unbeschwerte Zeit. Für Betroffene von Zwangsheiraten können sie die Hölle bedeuten. Denn es gibt Familien, die während der Sommerferien in ihr Heimatland reisen, um dort ihre Töchter oder Söhne zu verheiraten – auch unter Zwang. Derzeit mehren sich die Meldungen von Zwangsverheiratungen bei Menschen- und Frauenrechtsorganisationen.
«Zwar finden Zwangsverheiratungen rund ums Jahr statt, doch vor den Sommerferien steigen die Befürchtungen von potentiell Gefährdeten an, wodurch sie eher bereit sind, uns zu kontaktieren», so Anu Sivaganesan, Leiterin der Fachstelle zwangsheirat.ch. Sie beschreibt die Situation der Betroffenen folgendermassen: «Sie haben Angst, in einem ihnen nicht mehr so vertrauten Land ohne ihre gewohnten Solidarnetze alleine gelassen zu sein – an einem für sie unsicheren Ort in einer angstmachenden Situation.» Deshalb melden sie sich bei der Fachstelle. «Normalerweise haben wir fünf Meldungen pro Woche», so Sivaganesan. «Letzte Woche haben sich aber 13 Personen gemeldet.»
340 Fälle pro Jahr
Wieso gerade die Sommerferien die Hochsaison für Zwangsheiraten sind, erklärt Natalie Trummer, Geschäftsleiterin von Terre des Femmes Schweiz, so: «Einerseits sind die Sommerferien die Hauptferien, wo man am längsten Zeit hat und die ganze Familie verreisen kann», so Trummer. «Andererseits schliessen viele ihre Lehre oder Schule vor den Sommerferien ab. Sobald die Ausbildung fertig ist, werden sie verheiratet.»
Wie viele Personen von Zwangsheiraten betroffen sind, ist unklar. «Es ist schwierig, eine Zahl anzugeben, da es nach wie vor ein tabuisiertes Thema ist», so Trummer. Eine Studie sei bei einer Online-Umfrage auf rund 340 Fälle in der Schweiz pro Jahr gekommen. «Doch das ist eine konservative Schätzung; die Dunkelziffer liegt viel höher.»
Junge Männer genauso betroffen
Zwangsheiraten kämen in verschiedensten Kreisen vor. Anders als in Deutschland, wo es vor allem türkische und arabische Familien betrifft, seien in der Schweiz vor allem Familien aus dem Balkan und Sri Lanka betroffen, so Trummer. Sivaganesan fügt hinzu: «Neu gelangen aber auch Personen aus afrikanischen Staaten wie Eritrea, Äthiopien und Somalia sowie aus dem Nahen Osten und weiteren asiatischen Ländern an die Fachstelle zwangsheirat.ch.»
Entgegen allen Vorurteilen seien Zwangsheiraten jedoch kein Schichtproblem. «Viele denken, es kommt nur bei armen Familien vor», so Trummer. «Wir kennen sie aber auch von sehr wohlhabenden Familien, die ihre Kinder aus ökonomischen Gründen zu einer Ehe zwingen.» Weitere Gründe sind laut Sivaganesan das Festhalten an überkommenen Traditionen, die Möglichkeit, an eine Aufenthaltsbewilligung zu kommen und der Gemeinschaftsdruck.
Und: Zwangsverheiratungen sind nicht nur ein «weibliches» Problem: «Es kommt sowohl bei Frauen als auch bei Männern vor», so Trummer. Bei der Fachstelle zwangsheirat.ch beschreibt man folgenden Fall: «Ein 18-jähriger Mazedonier, der in der Schweiz lebt und in eine Nicht-Mazedonierin verliebt war, wurde von seiner Schwester nach Mazedonien gelockt. Sie gab an, sie wolle dort zusammen mit den Grosseltern eine Geburtstagsparty für ihren Sohn organisieren. Als er ankam, war es keine Geburtstagsfete, sondern seine Hochzeit. Er wurde zwangsverheiratet.»
Auf die Frage, wann denn eine Zwangsheirat oder Zwangsehe vorliege, macht Trummer klar: «Die Definition ist ziemlich subjektiv. Sobald eine Person Zwang, also Druck verspürt, dass sie heiraten oder in der Ehe bleiben muss, dann ist es bereits Zwang.»
Individuelle Massnahmen treffen
Die Massnahmen in solchen Fällen sind laut Trummer individuell: «Wenn sich jemand meldet, schauen wir den Fall sehr genau an und klären, welche Gefahrenstufe gegeben ist und wie dringend der Fall ist», so Trummer. Weil diese Personen aber auch sonst kaum Freiheiten hätten, sei es wichtig, mit vertrauenswürdigen Leuten aus dem Umfeld zusammenzuarbeiten: «Es kam vor, dass wir den Arbeitgeber bitten mussten, der betroffenen Person keine Ferien zu genehmigen oder auf ein unbestimmtes Datum zu verschieben, damit sie nicht verreisen kann», so Trummer.
Laut Sivaganesan seien solche präventiven Massnahmen wichtig: «Es gibt auch Fälle, wo die Betroffenen nach der Eheschliessung gezwungen wurden, in ihrem Herkunftsland zu bleiben», so Sivaganesan. «Pass und Bewilligung wurden ihnen abgenommen.» Dadurch, dass das Rückkehrrecht nach sechs Monaten abläuft, konnte die betroffene Person nicht mehr zurück. «Leider hat der Bundesrat verkannt, dass viele Betroffene von Ferienzwangsverheiratungen in den Herkunftsländern festgehalten und an der Rückkehr gehindert werden», so Sivaganesan. «Hier sollte das Rückkehrrecht wie in Deutschland erweitert werden.»
Bei dringenden Fällen können sich Betroffene direkt bei der Helpline der Fachstelle zwangsheirat.ch melden.
Gesetzeslage
Auf Terre des Femmes Schweiz ist die Gesetzeslage klar wiedergegeben:
Zwangsverheiratungen und -ehen verstossen gegen internationales und schweizerisches Recht: Seit dem 1. Juli 2013 sind Zwangsverheiratungen in der Schweiz mit Art. 181a StGB als eigener Straftatbestand verboten und werden mit bis zu fünf Jahren Gefängnis geahndet. Das Bundesgesetz über Massnahmen zu Zwangsheiraten umfasst gesetzliche Regelungen in verschiedenen Rechtsbereichen. Zwangsverheiratungen und Zwangsehen sind asylrelevante Fluchtgründe.
Definition
Auf Terre des Femmes Schweiz findet man folgende Definition:
«Zwangsverheiratung bezeichnet eine Eheschliessung, die gegen den Willen eines oder beider Heiratenden stattfindet. Eine Zwangsehe liegt vor, wenn Betroffene nach einer freiwilligen oder erzwungenen Heirat genötigt werden, gegen ihren freien Willen in einer Ehe zu bleiben.»