«No Billag»-KopfDie Erinnerungslücken des Olivier Kessler
SVP-Hoffnung Olivier Kessler gibt sich auf allen Kanälen seriös und staatsmännisch. Das war nicht immer so – doch Kessler will sich nicht genau erinnern.
Vor Facebook oder Myspace hatte man eigene Websites und tauschte Nachrichten auf öffentlichen Foren aus. Dort findet man noch heute Gedanken, Diskussionen und Wünsche von Schweizer Teenagern. Etwa diese Prophezeiung vom 12. Februar 2003: «Bundesrät vom 2015: L.*, SVP, F.E.*, SVP, Olivier Kessler, SVP, E.*, SVP, P.M.*, SVP. Ja, und da mir ja scho 5 Bundesratssitz eroberet händ, lömer doch so lieb wie mir sind doch no 2 Sitz offä für die lingä. Suscht gits nur zvil Demos vo de Linggä und das wämer ja au nöd *gg*.»
Bundesrat ist bis heute keiner der Teenies von damals geworden. Die 16- bis 17-Jährigen aus Wollerau SZ und Umgebung sind heute junge Männer: L. ist Bankberater und Vitamindrinkverkäufer, Hockeyfan F. E. lebt immer noch in Wollerau, E. ist Handwerker, P. M. war in der JSVP. Er bot nach dem Attentat in Norwegen das Manifest des Täters Anders Breivik auf seiner Homepage für zehn Euro zum Verkauf an. National bekannt ist heute einzig Olivier Kessler, Webmaster des Forums. Er unternahm seine ersten aktiven Schritte in der Parteipolitik in der JSVP – 2008, als Co-Präsident Ausserschwyz des Komitees für die SVP-Einbürgerungsinitiative, bei dem auch P. M. Mitglied war.
«So luschtig gsi wiäs de sämi uspfiffe händ»
Olivier Kessler steht im Rampenlicht. Der heute 28-jährige Vize-Chefredaktor von Ulrich Schlüers «Schweizerzeit» und Kopf der «No Billag»-Initiative, die alle öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehgebühren abschaffen und verbieten will, gilt als Zukunftshoffnung der SVP und kandidiert für die JSVP Zürich für den Nationalrat. Kessler trat in den vergangenen zwei Wochen in der «Arena» auf, gab ein grosses Interview im «Blick» – und die «Aargauer Zeitung» porträtierte ihn gar als den «rechten Wermuth». «Ich weiss nicht so recht, ob das ein Kompliment sein soll oder nicht. Wermuth ist rhetorisch brillant, aber es steckt nichts dahinter. Rhetorisch kann man von ihm lernen, inhaltlich habe ich wenig mit ihm zu tun», sagt Kessler zu 20 Minuten.
Das merkt man schnell, wenn man Kessler zuhört. Der HSG-Absolvent sagt seine Meinung direkt: «Ich bin ein Kritiker von aufgeblähten Staatsstrukturen.» Der Bürger werde immer mehr bevormundet und dazu gezwungen, für Dinge zu bezahlen, die er gar nicht haben möchte. Der «Tages-Anzeiger» bezeichnete ihn deshalb als «radikaler» als andere SVPler. Und der libertäre Blog zuercherin.com feierte ihn wegen der No-Billag-Initiative als «Staatsfeind Nummer 1». Er sagt, er würde sich «eher als staatskritisch bezeichnen, nicht als Staatsfeind».
2005. Auf Kesslers Forum fragen User, wie es dem Webmaster im Militärdienst ergeht. «Wie laufts so im chrieg? ghöre so nüt vo dir.» Am Abend des 1. Augusts 2005, Kessler wird bald 19, antwortet User «Oli»: «Lauft nöd schlächt. ha na en easy zug. hetsch au müse mitcho ufs rütli ... so luschtig gsi wiäs de sämi uspfiffe händ :-) scheiss antifa hät au na müse d nase drihebe und hät gröber kassiert! bis bald mal.»
Der Webmaster
War es denn wirklich der heutige Nationalratskandidat, der es «lustig» fand, als Hunderte Neonazis auf dem Rütli einen SVP-Bundesrat auspfiffen und Gegendemonstranten verprügelten? Konfrontiert man Kessler mit den Einträgen, wird der redegewandte Politiker wortkarg. «Welches Forum?» 20 Minuten sendet ihm die Links. «Das schreibt einfach jemand unter dem Namen ‹Oli›, das war nicht ich.» Das Posten mit Fantasienamen war technisch tatsächlich möglich. Es gibt auch einige wenige Troll-Einträge unter dem Namen, etwa einen, von einem «Oli», der lautet: «Ich bin der grösste hurensohn».
User «Oli» war, das zeigen die Posts über die Jahre, der Forums-Admin. «Dini iträg sind sinnlos und bliibed allerhöchstens 1-2 stündli da ine!», schrieb er 2003 an einen Gast, der ihn offenbar nervte, und an anderer Stelle amüsierte «Oli» sich so über seine Kontrolle über die Aktivitäten eines Trolls: «… hät mi zum gröhle bracht will du sage und schreibe 20 min ufgwändet häsch zum mir diä iträg zmache und ich knappi 10 sekundä gha ha um sie wieder zlösche!» Einmal stellt «Oli» klar: «he moment wer isch webmaster?? ha ja gnau das welle das ihr wieder beleidiget sind! *ggg*»
Ausländer und Gewalt
Der Forums-Oli, auch das zeigen die Einträge über die Jahre, wohnte an der Adresse von Kesslers Eltern, feierte am gleichen Tag wie Kessler Geburtstag, ging an dieselbe Schule und hatte dieselben Freunde. Während er sich hin und wieder über das Löschen von Beiträgen freute, liess er andere Einträge von Gästen stehen. Über das Gold jüdischer Opfer des Holocaust in der Schweiz steht im Forum: «Na und?? Hämmers halt klaut… wer interessierts?» Über den Nationalsozialismus: die «Aussage, dass der Nationalsozialismus an und für sich nichts Anstössiges sei, ist richtig.» Bei Ausländern kommt oft die Vorsilbe «sau-» oder «scheiss-» zum Einsatz. Letzteres auch von User «Oli», der über sich nach einem enttäuschenden Abstimmungsergebnis für die SVP, das auf dem Forum rege diskutiert wurde, schrieb: «...ich weiss, ich bin en riise faschoschlampe. *seufz*.»
Kessler sagt, er habe es unterlassen, «die Beiträge, die zum Teil auf unterirdischem Niveau sind, wenn ich die so lese, zu managen und zu löschen. Das war ein Fehler.» Kurz nachdem ihm 20 Minuten die Forum-Links zugestellt hatte, verschwindet das Forum aus dem Internet (20 Minuten hat eine vollständige Kopie). Kessler teilt mit: «Ich habe das Forum umgehend nach Ihrem Hinweis gelöscht.» Er möchte «betonen, dass ich keineswegs mit den primitiven Beiträgen, die dort standen, einverstanden bin.» Zum User «Oli» sagt Kessler auf erneute Rückfrage: «Ich mag mich nicht erinnern, dort Beiträge gelöscht zu haben. Und wie ich schon gesagt habe, scheinen sich dort regelmässig Trolle aufgehalten zu haben, die unter dem Namen Oli fungierten.»
Der Forum-Oli spielt in manchen seiner Einträge zwischen 2003 bis 2006 auf Schlägereien und Pöbeleien an, in die er persönlich verwickelt gewesen sei. Nicht als Opfer. Kessler erzählte der «Aargauer Zeitung», eine Schlägerei sei sein «politisches Schlüsselerlebnis» gewesen. Passiert sei es am 5. Oktober 2000: «Wenn ich mich richtig erinnere, war das an meinem 14. Geburtstag, als wir am See in Rapperswil zusammensassen.» Er erzählt weiter: «Als wir danach auf den letzten Zug gingen, wurden wir in der Bahnhofsunterführung von einer recht grossen Gruppe Jugendlicher abgepasst und ohne einen Grund mit Baseballschlägern verprügelt. Sie haben uns gefragt: ‹Seid ihr Schweizer?› Und dann ging es los.»
Danach sei das «Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert» worden: «Auf dem Polizeiposten wollte man unsere Anzeige nicht entgegennehmen, weil der Hinweis auf den gebrochenen Akzent der Schläger rassistisch sei», sagt Kessler zu 20 Minuten. Damals hätten einige der Prügel-Opfer an Selbstjustiz gedacht, sagt Kessler. Er habe das nie getan: Seines Erachtens sei «Die Ausschaffungsinitiative der richtige Weg. Sie muss jetzt umgesetzt werden.»
*Namen der Redaktion bekannt