Kein Recht auf Schutz?Gehörlose sind bei Alarm chancenlos
Im Thurgau wurde Anfang Woche Gift-Alarm ausgelöst. Schleunigst schlossen die Anwohner ihre Fenster und blieben drinnen. Nichts davon mitbekommen hat Martin G.*. Er ist gehörlos.

In der Schweiz gibt es kein Instrument, um Gehörlose vor Gefahren zu warnen. (Bilder: Colourbox/Keystone)
Montagmittag, Wängi im Kanton Thurgau. Die Sirenen heulen, über Radio DRS wird die Bevölkerung aufgerufen, die Fenster zu schliessen. In einer Fabrik ist Salpetersäure ausgetreten, es herrscht Gift-Alarm. Hektik bricht aus, die Menschen sperren Fenster und Türen zu, verlassen ihre Häuser nicht, die Bauern sorgen sich um ihre ungeschützten Tiere in den Ställen.
Von all dem bekommt Martin G.* nichts mit. Er sitzt in seiner Wohnung, irgendwann bekommt er ein SMS von einem Bekannten, der ihn über den Alarm informiert.
Das Beispiel zeigt, dass Gehörlose in der Schweiz im Ernstfall verloren sind. Kurt Münger, Chef Kommunikation des Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS), räumt ein: «Die gesetzlichen Bestimmungen zur Alarmierung der Bevölkerung sind beschränkt auf Sirenen.» Es gebe momentan keine technisch gleichwertige Alternative für Gehörlose. Diese würden jedoch insofern berücksichtigt, als zu den Verhaltensweisen nach einem Sirenenalarm auch gehöre, die Nachbarn zu informieren.
Warum wird nicht per SMS alarmiert?
Das BABS koordiniert die Alarmierung in der Schweiz, für die Umsetzung sind die Kantone verantwortlich. Der Kanton Basel Stadt testete im Februar einen Sirenenalarm mit Auslösung eines SMS-unterstützten Alarmierungssystem für Gehörlose. Die schweizerische Premiere verlief reibungslos. «Es funktionierte einwandfrei», sagt Klaus Mannhart, Mediensprecher der Kantonspolizei Basel Stadt. Warum wird das Modell nicht im ganzen Land angewendet? «Wir befürchten, dass SMS-Alarme im Ernstfall nicht möglich sind, weil es zu Überlastungen kommen könnte und die Dienstleistung dann nicht zur Verfügung stünde», so Münger. Auch bei einem Stromausfall würde die Dienstleistung nicht funktionieren.
Eine informelle Arbeitsgruppe prüfe jedoch Verbesserungen für Gehörlose. Unter anderem wird eine Steuerung über POLYCOM, das sich im Aufbau befindende nationale Sicherheitsnetz Funk der Schweiz, in Betracht bezogen. Dies würde eine «sichere» SMS-Alarmierung ermöglichen. Einsatzbereit wäre es jedoch frühestens im Jahr 2015. In einem ersten Schritt müssen die Kantone für ein gemeinsames Projekt gewonnen werden. Zudem sind noch einige technische Probleme zu lösen.
«Recht auf Schutz muss ausgedehnt werden»
Dem Schweizerischen Gehörlosenverbund geht das alles zu langsam. Sprecherin Antonia D'Orio gibt zu bedenken, dass das Behindertengleichstellungsgesetz leider nicht mit gebotener Dringklichkeit umgesetzt werde. «Namentlich im Bereich der Alarmierung ist geradezu unbegreiflich, dass sich bisher noch keine Mittel gefunden haben, auch Gehörlose und Hörbehinderte vor Gefahren zu warnen.» Man hoffe, die zuständigen Stellen dehnten das verfassungsmässige Recht auf Schutz so rasch wie möglich auf alle Mitglieder der Gesellschaft aus. Dies wünscht sich auch Martin G.: «Heute merke ich schlicht nicht, dass Alarm ausgelöst wurde.» Das sei für ihn und alle Gehörlosen sehr schlecht.
Wie viele Gehörlose genau in der Schweiz leben, ist unklar; es gibt keine offiziellen Statistiken. Schätzungen gehen von zwischen 8000 und 10 000 Menschen aus. Schwerhörige gibt es rund eine halbe Million.
*Name der Redaktion bekannt
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