Hohe Bussen drohenKennen Sie die 2x2-Sekunden-Regel?
Die Kapo Graubünden wendet eine kaum bekannte Regel an, die das Überholen von Autos zur teuren Sache machen kann. Sie verteidigt ihr Vorgehen.
Willi Wismer, Fahrlehrer und Präsident des Zürcher Fahrlehrer-Verbands, erklärt, wie Sie richtig überholen. (Video: Tarek El Sayed)
Ein 20-Minuten-Leser freute sich auf das Grüenbödeli. Die etwa 300 Meter lange Strecke auf der Kantonsstrasse zwischen Klosters und Davos gab ihm die Möglichkeit, einen Schleicher zu überholen. Mit den Beamten der Kantonspolizei Graubünden hatte er allerdings nicht gerechnet: Diese winkten ihn nach seinem Überholmanöver raus. Der Lenker musste seinen Fahrausweis für drei Monate abgeben und eine Busse von 2500 Franken inklusive Gebühren bezahlen.
Dabei war er nicht zu schnell unterwegs. Zum Verhängnis wurde ihm die 2x2-Sekunden-Regel – laut dem Leser eine «Spezialwaffe der Bündner Justiz». Autofahrer, die überholen, müssen sicherstellen, dass sie mindestens zwei Sekunden lang wieder auf ihrer Seite fahren, bevor sie sich mit einem entgegenkommenden Auto kreuzen. Weil die Autos in die entgegengesetzte Richtung fahren, muss diese Sicherheitszeit doppelt gerechnet werden. So erklärt sich der Name «2x2-Sekunden-Regel».
Kontrolle wegen Bussensoll?
Diese Regel hat zur Folge, dass man einen Überholvorgang ausserorts mindestens 94 Meter vor der nächsten Sicherheitslinie abgeschlossen haben muss. Dies, weil mit einer Geschwindigkeit von 90 Kilometern pro Stunde für das entgegenkommende Auto gerechnet werden muss. Die Bündner Polizisten «wissen auf den Meter genau, wo ihre Chance gekommen ist», sagt der Leser. Das Vorgehen werde mit der Verkehrssicherheit begründet.
«Mit einer Überholverbotstafel wäre dieser natürlich auch Genüge getan. Dann fehlten aber einige zigtausend Franken in der Bussenkasse.» Die Kantonspolizei Graubünden sei die Einzige, die diese Regel anwende. Nutzniesser des Geschäftsmodells sind laut dem Leser auch Polizisten, die das vorgegebene Bussensoll so einfacher erfüllen könnten. Wöchentlich komme es gemäss seiner Aussage auf der Strecke zu zwei bis drei Verzeigungen.
«Noch nie davon gehört»
Tatsächlich scheint die Anwendung der Regel selten zu sein. «Von einer solchen Regel haben wir offen gesagt noch nie etwas gehört», sagt Bernhard Graser von der Kantonspolizei Aargau. Jolanda Egger von der Kantonspolizei Bern sagt, die Regel sei ihnen «so nicht bekannt». Die rechtliche Würdigung obliege aber letztlich der Justiz. Auch andere angefragte Polizeikorps wenden die 2x2-Sekunden-Regel nicht an, während die Tessiner Kantonspolizei angibt, die Regel zu verwenden.
Die Kantonspolizei Graubünden verteidigt ihr Vorgehen. «Bei der zur Diskussion stehenden Strecke handelt es sich um einen kurvenreichen Ausserorts-Abschnitt», sagt Sprecher Roman Rüegg. Die 2x2-Sekunden-Regel werde nicht nur bei der Kantonspolizei Graubünden, sondern auch von namhaften Juristen und Staatsanwälten angewendet. Die Anzahl Verzeigungen könne die Polizei nicht benennen.
«Unbestritten gefährliche Strecke»
«Dass es sich um eine Strecke handelt, bei welcher Überholmanöver zu gefährlichen Situationen führen können, ist unbestritten», sagt Rüegg. «Der Vorwurf, dass die 2x2-Sekunden Regel etwas mit einem Bussensoll zu tun haben soll, entbehrt jeglicher Grundlage.»
Die rechtliche Grundlage für die Verzeigungen bilde das Strassenverkehrsgesetz. Dieses hält fest, dass das Überholen nur gestattet ist, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird. In unübersichtlichen Kurven darf nicht überholt werden. Damit ist laut der geltenden Rechtsprechung auch der Bereich derartiger Kurven gemeint sei.
Bundesgericht stützt Regel
Das Bundesgericht stützt die Anwendung der 2x2-Sekunden-Regel. So nehmen die Lausanner Richter in einem Urteil vom August 2015 auf sie Bezug. «Das überholende Fahrzeug muss bereits während zwei Sekunden auf dem rechten Fahrstreifen wieder eingespurt sein, bevor es mit dem entgegenkommenden kreuzt», schreiben die Richter. Bereits damals hatten sie einen Fall aus dem Kanton Graubünden zu beurteilen.
Die Richter argumentieren damit, dass die Regel allgemein bekannt sei und verweisen auf die verwandte Regel, wonach ein Sicherheitsabstand von zwei Sekunden eingehalten werden sollte, wenn man hinter einem anderen Auto fährt. Die Regel führe zu Überholvorgängen, die das überholte Fahrzeug nicht gefährden und auch die Gefahr für entgegenkommende Autos berücksichtigen. «So werden dessen Insassen nicht erschreckt und der Lenker muss nicht bremsen, um eine gefährliche Situation zu vermeiden.»
Im vergangenen Jahr kamen 21 Menschen bei Unfällen, die aus Überholvorgängen entstanden, ums Leben, 173 verletzten sich schwer. Besonders häufig kommt es ausserorts zu tödlich verlaufenden Überholvorgängen.