Kuschel-Manko wegen Social Media

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Berührt euch!Kuschel-Manko wegen Social Media

Wegen Social Media und stressigen Jobs haben Menschen zunehmend weniger Körperkontakt. Experten warnen vor gravierenden Folgen – und fordern zum Kuscheln auf.

Stefan Heusser
von
Stefan Heusser
Nicht durch elektronische Bits zu ersetzen: Die Haut eines anderen Menschen.

Nicht durch elektronische Bits zu ersetzen: Die Haut eines anderen Menschen.

Es ist das Dilemma der Internetgesellschaft: Online geht fast alles – ausser Körperkontakt. Die Folgen dieses Mankos gehen unter die Haut. In dem Buch «Der unberührte Mensch. Warum wir mehr Köperkontakt brauchen», beschreiben der Arzt Cem Ekmekcioglu und die Journalistin Anita Ericson ein neues Phänomen: «Es ist eine Tatsache, dass wir uns heute immer öfter elektronisch begegnen – das schliesst mit ein, dass wir uns weniger real gegenüber stehen und damit weniger berühren», erklärt Ericson.

Die Internetexpertin Marie-Louise Fontana von der Thuner Medienakademie pflichtet bei: «Die Schnelllebigkeit unserer Zeit, berufliche Anforderungen und ständiger Zeitdruck erschweren es, soziale Kontakte zu pflegen. Dank den neuen Technologien können wir mit anderen Menschen in Kontakt treten – online, statt live.» Doch der Ersatz von warmer Haut durch kalte Bits hat gravierende Folgen für Psyche und Gesundheit der Betroffenen.

«Der Glanz in den Augen erlischt»

«Menschen mit wenig Körperkontakt leiden eher unter Depressionen, Stress, Aggressionen, Angststörungen und Defiziten im Gehirn», sagt Autorin Ericson. Der Schweizer Paartherapeut Klaus Heer lernt immer wieder Menschen kennen, die über einen langen Zeitraum hinweg kaum körperlichen Nähe erlebt haben: «Einem Menschen ohne Berührung erlischt der Glanz in den Augen», sagt er. «Es stirbt etwas in uns ab, wenn wir unberührt bleiben und auch selbst niemanden berühren. Wir werden stumpf und anfällig für alle möglichen Überforderungen.» Berührung sei die Urform allen menschlichen Kontakts, sagt Heer.

Die elementare Bedeutung der Berührung von Haut zu Haut kennt auch der Soziologe Ueli Mäder. «Wir spüren uns, wenn uns andere anfassen», so der Professor der Universität Basel. «Hautnahe Berührung ist ursprünglich und das Verlangen danach bleibt meist bis ans Ende des Lebens erhalten.» Ungestillt kann es aber auch verkümmern. Dass das Aufkommen von Gratis-Umarmungen, sogenannter «Free-Hugs», ins Zeitalter des Internet-Booms fällt, scheint also kein Zufall zu sein. «Es gibt ein Riesenbedürfnis nach Umarmungen», sagt Wolfgang Weber, Free-Hug-Ausbilder von der Praxis Freiraum Zentrum (siehe Box).

Mit Massagen gegen Kuschelmanko

Doch nicht nur mittels Umarmungskursen kann man dem Kuschel-Manko entgegenwirken. Autorin Anita Ericson empfiehlt Massagen: «Solche Berührungen, die gut tun, kann man sich heute von professionellen Anbietern holen – das ist vermutlich mit ein Grund warum Wellness so boomt. Massagen könnten wahre Wunder bewirken, nicht nur direkt an den betroffenen Körperstellen, sondern eben auch über die Berührung an sich», sagt sie. Tatsächlich machen immer mehr Menschen davon Gebrauch: Laut Medina Papic vom Massage Therapie Center in Zürich hat sich die Nachfrage nach Massagen in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Internetexpertin Fontana derweil empfiehlt Menschen, die zu schüchtern sind, Leute im realen Leben kennenzulernen einen Besuch eines sozialen Kompetenztrainings. Psychologen und Kliniken würden solche Trainings anbieten. Eine Gruppentherapie sei besonders empfehlenswert.

Herr Weber*, Sie verteilen «Free Hugs». Welche Umarmung bleibt Ihnen besonders in Erinnerung?

Ein Manager lief einmal ganz lange hin und her, bis er sich traute, von mir umarmt zu werden. Er weinte und sagte, das sei das erste Mal gewesen, dass ihn jemand bedingungslos umarmt hätte.

Gibt es ein grosses Bedürfnis nach Umarmungen?

Es gibt ein Riesenbedürfnis nach Umarmungen. Und es sind Menschen jeder Couleur – schliesslich haben wir alle die gleichen Bedürfnisse. Viele Frauen freuen sich auch, umarmt zu werden, ohne gleich Sex haben zu müssen.

Hat die Sehnsucht nach Körperkontakt etwas damit zu tun, dass Menschen immer mehr im Internet sind?

Auch. Es gibt aber genauso die Möglichkeit, im Internet jemanden kennen zu lernen, den man dann im echten Leben trifft. Hoffentlich kommt es in Zukunft zu mehr sozialen «Happenings» aus den sozialen Netzwerken heraus

*Wolfgang Weber ist Free-Hug-Trainer für Institutionen, KMU und Management.

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