Mit Stettler und Kälin auf dem Roma-Strich

Aktualisiert

Ermittler im Sex-MilieuMit Stettler und Kälin auf dem Roma-Strich

Frauen – eine lukrative «Ware» für brutale Zuhälter aus dem Osten. Bundespolizisten und Ermittler arbeiten Hand in Hand, um ihnen das Handwerk zu legen. Die grosse Reportage.

von
Simon Hehli

«Szia!» Die junge Roma-Frau zuckt zusammen, als sie den Gruss aus ihrer ungarischen Heimat hört. Zwei unrasierte Männer im Schlabberlook stehen vor der Lifttüre in einem heruntergekommenen Haus. Die Miene der Frau hellt sich kaum auf, als die beiden ihre Polizeiausweise hervorholen. Mit gesenktem Blick zeigt sie ihre ID, genau beobachtet von ihrer Begleiterin, einer deutlich älteren Frau mit blondiertem Haar.

Es ist ein kalter Winterabend und die beiden Milieuaufklärer Stettler und Kälin* machen, was sie an drei bis vier Nächten pro Woche machen: Sie durchkämmen das Zürcher Rotlicht-Milieu nach Opfern von Menschenhändlern. Ein solches könnte auch die junge ungarische Prostituierte sein – darauf deuten zumindest ihre verstockte Art und die undurchsichtige Rolle der Zuhälterin hin. Stettler kontrolliert den Ausweis, dann lässt er die Frau gehen. Viel Arbeit wird nötig sein um rauszufinden, ob der Verdacht berechtigt ist.

«Nach uns dreht sich niemand um»

Stettler und Kälin versuchen, ein Vertrauensverhältnis zu den Prostituierten aufzubauen. Nur dann besteht die Chance, dass die Frauen es irgendwann wagen, ihren Übeltätern den Rücken zu kehren. Mit ihren paar Brocken Ungarisch, Rumänisch oder Portugiesisch verwickeln die Polizisten alle Prostituierten, die sie antreffen, in Gespräche. «Wir reden über belangloses Zeug, beobachten aber genau, wie die Frauen reagieren», sagt Stettler.

Immer wieder helfen sie den Frauen bei Papierkram, erklären einer Ungarin, die noch nie den zwei Kilometer entfernten Zürichsee gesehen hat, den Weg zu einer Amtsstelle. Auch Frauen, die von Freiern missbraucht wurden, wenden sich an sie – good Cop und good Cop. Sie gehören zur Szene: «Nach uns dreht sich hier keiner um», so Kälin. Dass die beiden den Job machen und keine Kolleginnen, hat einen einfachen Grund: Für Polizistinnen wäre es schwieriger, sich in einschlägigen Bars zu bewegen.

Keine Kumpel der Zuhälter

Zu viel Nähe kann aber problematisch werden. Damit keine Missverständnisse entstehen, sind Stettler und Kälin immer zu zweit oder in Begleitung eines anderen Angehörigen der Spezialgruppe unterwegs: «Vieraugenprinzip». Sie dulden weder Umarmungen noch Küsschen. Doch schon der Händedruck, den die Frauen meist mit einem scheuen Lächeln quittieren, ist ein Zeichen der Wertschätzung. Etwas, das sie sonst kaum je bekommen.

Mit den potentiellen Menschenhändlern sprechen die Polizisten hingegen nicht. Aus gutem Grund: Frühere Opfer haben erzählt, die Zuhälter hätten sie mit der Behauptung eingeschüchtert, Schweizer Polizisten seien genauso korrupt wie jene in Ungarn oder Rumänien. Hilfesuchen wäre dementsprechend aussichtslos. Kumpelhaftes Verhalten der Ermittler gegenüber den Ausbeutern liesse diese Drohung wahr erscheinen.

Vom fünften Stock arbeiten sich Stettler und Kälin im Wohnhaus in der Nähe der Langstrasse nach unten, begrüssen alle Frauen freundlich. 35 Franken zahlen die Ungarinnen hier für die Übernachtung. Obwohl keine ein Zimmer für sich hat, «ist das für dieses Quartier ein fairer Preis», so Stettler. Freier sind nicht geduldet, die Frauen schaffen am Sihlquai an. Dorthin machen sich die Polizisten auf den Weg. Es ist kurz vor 22 Uhr, der Strassenstrich erwacht.

Menschen, wie Ware behandelt

Ein paar Stunden früher in einem ruhigen Quartier im Osten von Bern. Hier, beim Bundesamt für Polizei (Fedpol), sind Leute am Werk, ohne die die Ermittler an der Front einen schweren Stand hätten. Menschenhandel ist ein länderübergreifendes Verbrechen. Kantonale Behörden stossen zwangsläufig bald an Grenzen: Fällt den Zürcher Beamten eine Frau auf, ist sie am nächsten Abend vielleicht schon in Basel. Oder in Stuttgart. Das Fedpol sorgt für den Austausch zwischen Schweizer und ausländischen Behörden.

Boris Mesaric ist Leiter der Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel (KSMM), die für die strategische Seite der Bekämpfung zuständig ist. Er sagt: «Menschenhandel ist, wenn ein Mensch wie eine Ware behandelt wird, wenn er nicht mehr über sein Schicksal entscheiden kann und ausgebeutet wird.» Die Opfer finden sich nicht nur in der Prostitution. Auch bettelnde Kinder machen das selten freiwillig. Ist der Slowake, der für 10 Franken auf der Schweizer Baustelle schuftet, dem die Jobvermittler den Pass weggenommen haben und der sozial isoliert ist, noch Herr seines Schicksals? Die Übergänge sind fliessend.

Der verdächtige Bus mit Frauen und Kondomen

Treppe rauf, Treppe runter, zur Einsatzzentrale. Hier kommen jeden Tag rund 600 Meldungen ausländischer und inländischer Partner rein. Ein Teil davon betrifft mögliche Fälle von Menschenhandel. Interpol warnt, aus Bulgarien sei ein verdächtiges Auto mit möglichen Opfern unterwegs. In Grenznähe wird ein Kleinbus aus Rumänien gestoppt. An Bord: Vier blutjunge Frauen, im Gepäck aufreizende Kleider und Kondome.

Die Daten landen auf dem Tisch von Marco Tumelero. Er ist stellvertretender Leiter des Kommissariats Menschenhandel/Menschenschmuggel, das im Gegensatz zur Koordinationsstelle operativ tätig ist. Für die Ermittlungen im Rotlichtmilieu sind die Kantone zuständig. Aber Tumelero und seine sieben Kollegen unterstützen die Kantone bei den Ermittlungen.

Sind der Fahrer des Kleinbusses oder das Etablissement, das als Ziel angegeben wird, schon einmal aufgefallen, fragen sie im Heimatland nach. Und informieren die kantonalen oder städtischen Polizeikorps. Diese ermitteln dann weiter und versuchen, die Frauen zu kontaktieren – Alltag für Kälin und Stettler.

Durch Vergewaltigung gefügig gemacht

Tumelero, früher selbst zehn Jahre lang bei der Berner Kapo und auch auf Streife, erklärt: «Vor 15 Jahren sah man in den Frauen Täterinnen, die sich illegal in der Schweiz aufhielten. Heute betrachten wir sie als potentielle Opfer.» Die Globalisierung und die Öffnung des Ostblocks nach 1989 gaben dem Menschenhandel Auftrieb. Konkrete Opferzahlen gibt es nicht. Nur Hinweise: Im vergangenen Jahr bearbeitete das Kommissariat rund 5000 Meldungen, die in 600 Koordinationsdossiers mündeten. Ein Fall kann ein Opfer betreffen oder auch mehrere. «Das ist sowieso nur die Spitze des Eisbergs», so Tumelero.

Tumelero kennt die Täter und ihre Maschen. Die modernen Sklavenhändler arbeiten nicht mit Ketten und Gewehren, sondern mit Psychotricks, mit körperlicher und sexueller Gewalt. «Die Männer rekrutieren die naiven, mittellosen Frauen vom Land mit dem Versprechen, als Au-Pair oder im Service arbeiten zu können und viel zu verdienen.» Viele wüssten, dass sie in die Prostitution gehen – nur nicht zu welchen Bedingungen. Tumelero zeigt Aufnahmen, die rumänische Journalisten mit versteckten Kameras gemacht haben: Ein Mann begrapscht die Brüste einer Frau. Warentest.

«Sie behauptete, sie sei zufrieden»

Zurück am Zürcher Sihlquai. Der Strassenstrich gehört den Ungarn, meist Roma. Kleine Gruppen von Frauen – knapp volljährig, wenn überhaupt – warten auf Freier. Eine Frau schafft bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in Tanga und Strapsen an. «Drogen machen einiges erträglicher», sagt Kälin.

50 bis 60 Prozent der Frauen, die heute da sind, machen das nicht freiwillig, schätzt er. Im Hintergrund ziehe ein Zuhälter die Fäden. Doch wo endet die freiwillige Prostitution als Ausweg aus der Armut, wo beginnt die Ausbeutung? Kälin zuckt mit den Schultern. «Es gab mal eine Frau, die ausser für die Arbeit den ganzen Tag im Hotelzimmer eingesperrt war und nur ein Pfünderli Brot sowie ein Fleischplättli bekam. Sie behauptete, sie sei zufrieden.»

Den Anschein, dass sie nicht aus dem Sexgewerbe aussteigen wollen, machen am Anfang alle. «Bei einigen bröckelt dann irgendwann die Fassade.» Die besten Chancen für einen Ausstieg bestünden bei den ganz Neuen und bei denen «im Endstadium», so Kälin. Trotz all der Investitionen in eine Vertrauensbasis: Es kommt nur selten vor, dass ein Opfer von sich aus bei der Polizei auspackt. Zu gross ist die Angst vor den Menschenhändlern, zu stark vielleicht auch das psychische Abhängigkeitsverhältnis.

Die Zeichen, die es zu lesen gilt

Hinweise auf Opfer kommen von Freiern, die eine Zuneigung zur Prostituierten entwickeln. Von Kolleginnen, die den Ausstieg geschafft haben. Von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ). Oder von ausländischen Behörden, die eine Vermisstmeldung absetzen. Kälin und Stettler wissen auch Zeichen zu lesen. Weigert sich eine Frau mit einer Geschlechtskrankheit trotz Gratiskonsultation zum Arzt zu gehen oder trägt sie Spuren körperlicher Misshandlung, läuten die Alarmglocken. Sie finden dann einen Weg für ein eingehendes Gespräch.

Es ist eine Sisyphusarbeit: Kaum haben die beiden eine Frau näher kennengelernt, ist sie vielleicht schon wieder weg. Seit April 2012 hat die Milieuaufklärung mehr als einem Dutzend Frauen den Ausstieg ermöglicht – ein Erfolg, wie Chef Peter Rüegger betont. 13 Personen stark ist die Spezialgruppe zur Bekämpfung des Menschenhandels der Stadtpolizei Zürich, zu der auch Stettler und Kälin gehören. Laut Kälin ist das Wichtigste, dass die Frauen in Sicherheit kommen. «Wenn sich daraus noch ein Verfahren gegen die Täter entwickelt, ist das das i-Tüpfchen.»

Wie beweist man Menschenhandel?

Neben dem Schutz der Frauen ist die die Strafverfolgung die andere grosse Herausforderung. Die Justiz ist auf die Aussagen der Frauen angewiesen. «Erwischen wir einen Dealer mit grossen Mengen Kokain, ist er so gut wie überführt», erklärt Peter Rüegger. «Läuft aber ein Zuhälter mit einer Frau durch die Strasse, haben wir noch nichts bewiesen.»

Meldet sich eine Frau bei der Ermittlungsgruppe, kommt Polizistin Eva Peters* ins Spiel. «Wir setzen die Frauen nicht unter Druck, damit sie kooperieren», sagt sie. Es brauche viele Gespräche, bis sich die oft traumatisierten Opfer öffnen. Ein Argument ziehe aber häufig: «Wir sagen ihnen, dass sie anderen Mädchen das Schicksal ersparen können.» Peters hat von den Mädchen auch schon Zeichnungen zum Dank erhalten.

Profit: gross – Risiko: klein

Trotz aller Arbeitsgruppen, internationaler Zusammenarbeit und sorgfältiger Spurensuche: Es braucht einen langen Schnauf, um den Sklaventreibern das Handwerk zu legen. Zu gross deren Profite, zu klein das Risiko, erwischt zu werden und lange hinter Gittern zu wandern. Dass das Zürcher Obergericht im letzten Juli einen ungarischen Menschenhändler zu 14 Jahren Gefängnis verurteilte, ist für die Ermittler ein ermutigendes Zeichen.

Kälin und Stettler beenden ihre Runde am Sihlquai, grüssen die letzte Prostituierte für heute mit einem «Szia!». Sie wissen: Die junge Frau verdient in einem guten Monat 20'000 Franken – so lange sie durchhält. Den Grossteil des Geldes werden andere einstecken und wieder neue Arbeiterinnen bringen. Sie lauern. Irgendwo im Dunkeln.

* Namen von der Redaktion geändert.

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