Gewichtete UmfrageMuslime sollen sich stärker anpassen
Viele Schweizer wünschen sich laut einer Umfrage eine restriktivere Integrationspolitik. Laut einem Experten wären aber vor allem schweizweite Standards wichtig.
Welche Konsequenzen soll die Schweiz aus den Anschlägen in Paris ziehen? Laut einer Umfrage, die 20 Minuten zusammen mit den Politikwissenschaftlern Lucas Leemann und Fabio Wasserfallen durchgeführt hat, wünschen sich 68 Prozent der Schweizer eine Integrationspolitik, die Migranten dazu verpflichtet, sich in «wesentlichen Punkten» an die hiesigen Gepflogenheiten anzupassen. So sollen zum Beispiel auch muslimische Mädchen am Schwimmunterricht teilnehmen. 21 Prozent der Befragten wollen eine liberale Integrationspolitik, in deren Rahmen die Migranten ihren Glauben und ihre Kultur ungestört ausleben dürfen, solange sie die Schweizer Rechtsordnung respektieren. 11 Prozent wollen jegliche öffentliche nicht-christliche Symbolik verbieten.
56 Prozent der Umfrageteilnehmer glauben an die grundsätzliche Wirksamkeit von Integration. Die meisten sind jedoch der Meinung, auch die beste Integrationspolitik biete keine 100-prozentige Sicherheit. Vier von zehn Umfrageteilnehmern glauben nicht daran, dass sich die Radikalisierung eines jungen Muslimen durch eine intelligente Integrationspolitik verhindern lässt.
«Breite Repression trifft die Falschen»
Integrationsexperte Thomas Kessler warnt davor, das alleinige Heil in zusätzlicher Repression zu suchen – besser sei die bestehenden Regeln tatsächlich und landesweit durchzusetzen. «Integration heisst fördern, aber auch fordern. Die Schulpflicht muss zum Beispiel konsequent eingefordert werden.» Strengere Regeln alleine hälfen allerdings nicht. Man habe in der Schweiz 500 Jahre Erfahrung mit der Integration von Minderheiten, ob nun sprachlich oder konfessionell. «Wir müssen intelligent und informiert vorgehen, breite Repression trifft die Falschen», sagt Kessler.
Grundsätzlich sei es wichtig, Integration ab dem ersten Tag zu leisten, und Verbindlichkeiten zu schaffen. Kessler, heute in der Stadtentwicklungtätig, war lange Delegierter für Migrations- und Integrationsfragen in der Stadt Basel. Dort habe man ein Programm entworfen, bei dem die Zuzüger begrüsst und über die Pflichten informiert würden, bei Risikofällen habe man nachgefasst und mit den Einwanderern verbindliche Integrationsvereinbarungen geschaffen. Gleichzeitig wollte man Chancengleichheit herstellen. «Die beste Integration ist, eine Perspektive in Ausbildung oder Beruf zu haben», so Kessler.
Laut Integrationsexperte Kessler hatte die Schweiz lange Zeit keine Integrationspolitik, die diesen Namen verdiente. Noch vor 15 Jahren sei Integration nur von der Schule oder vom Arbeitsplatz ausgegangen. Dies habe sich inzwischen geändert – von einer gemeinsamen Integrationspolitik sei die Schweiz aber nach wie vor weit entfernt.
Problemherd Agglomeration
Kessler bedauert, dass nicht alle Kantone und Gemeinden gleich weit seien in der Integrationspolitik. Probleme sieht er vor allem in Agglomerationsgemeinden, die in den letzten Jahren schnell gewachsen sind. «Viele Agglomerationsgemeinden haben grossstädtische Probleme, aber nur ein kleinstädtisches Angebot. Sie sind mit der Integration häufig überfordert».
Gerade dort seinen aber die Problemherde. «Eigentlich müssten wir eine Schweizerkarte nehmen und dort verstärkt Fachpersonal einsetzen, wo die Jugendarbeitslosigkeit am grössten ist», so Kessler. Das Personal müsse die «grosse Zahl von jungen Menschen ohne Perspektive» auffangen und mit ihnen klar strukturiert arbeiten. Es sei unverständlich, dass Bund und Kantone Gemeinden mit hoher Sozialhilfequote nicht stärker unterstützten.
Wenn sich Jugendliche radikalisierten, wie das im Umfeld einer Winterthurer Moschee der Fall sein soll, sei das oft eine Art «Kompensation», so Kessler. Junge Männer, denen Perspektiven fehlten, und sich von der Gesellschaft nicht akzeptiert fühlten, würden sich den Status in der möglichst frommen Ausübung der Religion holen. «Früher ging man in die autonome Szene, wurde rechtsextrem oder trat einer Sekte bei. Heute ist der Jihad das, mit dem man am meisten angeben und erschrecken kann.»
Gewichtete Umfrage
21'968 Personen aus der ganzen Schweiz haben am 18. und 19. November 2015 an der Online-Umfrage von 20 Minuten zur Reaktion auf die Terroranschläge von Paris teilgenommen. Die Politologen Lucas Leemann und Fabio Wasserfallen haben die Umfragedaten nach demografischen, geografischen und politischen Variablen gewichtet, sodass die Stichprobe möglichst gut der Struktur der Stimmbevölkerung entspricht. Der auf diesem Modell basierende Stichprobenfehler beträgt +/- 1,6 Prozentpunkte.