Musste Adeline wegen Personal-Mangel sterben?

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Justiz in der KriseMusste Adeline wegen Personal-Mangel sterben?

Fabrice Anthamatten konnte seine Therapeutin Adeline nur wegen eines Fehlers der Strafbehörden töten. Laut Kritikern ist fehlendes und unqualifiziertes Personal schuld daran, dass es zu solchen Fehlentscheiden kommen kann.

J. Büchi
von
J. Büchi

Dunkle Wolken über dem Therapiezentrum «La Pâquerette» in Genf: Nachdem ein Untersuchungsbericht ergeben hatte, dass Vergewaltiger Fabrice A. seine Therapeutin Adeline nur wegen Fehler der Strafbehörden töten konnte, wird grundlegende Kritik an der Schweizer Justiz laut.

Nur allzu präsent sind der Öffentlichkeit die Fälle Marie und Lucie. All diesen Dramen ist eines gemein: Der Vollzug hat versagt. Die Frage drängt sich auf: Weshalb? SP-Nationalrätin und Rechtsanwältin Margret Kiener Nellen will die Antwort kennen. Schuld sei der Mangel an qualifizierten Fachkräften. «In der Praxis sehe ich, dass es in der forensischen Psychiatrie zunehmend an qualifizierten Gutachtern mangelt», so Kiener Nellen. Auch gutes Betreuungspersonal werde knapper. «Das ist ein grosses Problem.»

Bereits seien Fachkräfte aus dem Ausland – etwa aus Deutschland – geholt worden. «Dort tun sich aber wieder neue Probleme auf, etwa in Bezug auf die Sprache.» Sehr oft müssten Dolmetscher engagiert werden, damit der Gutachter die zu Begutachtenden überhaupt genau verstehe. «Das kostet zusätzliche Ressourcen.» Kiener Nellen betont, es handle sich um eine sehr heikle Aufgabe, bei der die Anforderungen hoch seien.

Lohn und Verantwortung als Grund für Mangel

Thomas Noll, Direktor des Schweizerischen Ausbildungszentrums für das Strafvollzugspersonal (SAZ) bestätigt, dass bei den forensischen Psychiatern in der ganzen Schweiz ein Fachkräftemangel herrscht. «Es gibt zu wenig Gutachter – und insbesondere zu wenig qualifizierte». Noll macht zwei Ursachen für den Mangel verantwortlich: «Von allen Ärzten sind Psychiater zusammen mit den Kinderärzten die, die am wenigsten verdienen. Bei den forensischen Psychiatern, die Gutachten erstellen, kommt noch die extreme Verantwortung hinzu.» Die Faktoren Lohn und Verantwortung machten den Beruf für viele Fachleute unattraktiv.

Entgegenwirken könnte man dem Mangel laut Noll einerseits, indem man am Lohn schraubt. Andererseits fordert er eine Ausbildungsoffensive: «Nicht nur die Psychiater, sondern auch Strafrichter oder Gefängnisdirektoren müssen vermehrt geschult werden.» Ziel müsse es sein, dass ein Strafrichter selbst beurteilen kann, ob ein Gutachten von guter oder schlechter Qualität ist – und ob er sich bei seinem Urteil entsprechend darauf stützen kann.

Auch das Aufsichtspersonal in den Gefängnissen sei teilweise knapp, sagt Noll weiter. Da sei die Situation jedoch von Kanton zu Kanton verschieden. Insbesondere dort, wo viele neue Gefängnisplätze geplant seien, werde die Rekrutierung von neuem Personal zu einem Problem. Die Rekrutierung von Fachkräften im Ausland bezeichnet er als «Notlösung». Wie in anderen Bereichen aus der Medizin sei dies auch in der forensischen Psychiatrie oft der einzige Weg, genügend Personal zu finden.

«Hier darf nicht gespart werden»

Margret Kiener Nellen will den Fachkräftemangel im Rahmen der Rechtskommission thematisieren, sobald ein Bericht des Bundesrates zur Überprüfung des Straf- und Massnahmenvollzugs vorliegt. Viola Amherd, auf deren Postulat der bundesrätliche Bericht zurückgeht, stimmt ihr zu: «Zu einem allfälligen Fachkräftemangel müsste der Bericht eigentlich Zahlen liefern.» Und auch SVP-Nationalrätin Natalie Rickli sieht Handlungsbedarf: «Ich hoffe, dass der Bundesrat dieses Thema im Bericht aufgreift.» Die Anzahl Gutachter, die sich um einen Fall kümmern, müsse tendenziell eher noch erhöht werden, fordert Rickli. «Sicherheit ist die oberste Aufgabe des Staates. Hier darf auf keinen Fall gespart werden.»

Beim Bundesamt für Justiz verweist man, angesprochen auf die Defizite im Vollzug, auf den Bericht des Bundesrates. Für die Frage des Fachkräftemangels seien die kantonalen Behörden zuständig.

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