Versunkene AltlastSchweiz soll Atommüll aus dem Meer bergen
5341 Tonnen radioaktive Abfälle kippte die Schweiz seit 1969 in den Atlantik. Neue Aufnahmen zeigen, dass die Fässer noch intakt sein können. Umweltschützer fordern jetzt Massnahmen.
Während in der Schweiz intensiv um Atomendlager unter der Erde gestritten wird, geht der Atommüll unter dem Wasser fast vergessen. Dabei hat die Schweiz zwischen 1969 und 1982 einen grossen Teil ihrer radioaktiven Abfälle im Meer versenkt – ganz legal. Erst 1992 beschloss der Bundesrat, auf die sogenannte Verklappung zu verzichten.
Bis dahin hatten die europäischen Staaten bereits satte 222'732 Fässer mit Atommüll in den Nordatlantik und den Ärmelkanal geworfen. Was heute mit diesen ist, weiss niemand. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA ging bis vor Kurzem davon aus, dass sie durchgerostet sind und sich der atomare Inhalt im Meer verflüssigt habe. Doch jetzt fanden deutsche Filmer bei einer anderen Dumping-Stelle im Ärmelkanal intakte Fässer.
Niemand weiss, was mit den Fässern ist
Ob deren Inhalt heute noch eine Gefahr darstellt, ist umstritten. Offiziell war in den Fässern schwach- bis mittelradioaktiver Abfall aus der Atomindustrie, der Forschung und der Medizin. Die Schweiz entsorgte gemäss dem Eidgenössischen Nuklearinspektorat Ensi vor allem Tritium, das beispielsweise als Abfallprodukt bei der Herstellung von Leuchtfarben und Ionisationsmeldern anfiel. Unter den versenkten 5341 Tonnen waren zudem Handschuhe, Schutzanzüge oder Filter aus der Atomindustrie.
Kritiker befürchten aber, dass zumindest einige der 222'732 Fässer auch hochradioaktiven Müll enthalten. Zwar massen Forscher bei den Dumping-Stellen im Rahmen eines Überwachungsprogramms der OECD, an dem sich auch die Schweiz beteiligte, nur schwache Strahlungswerte. Doch seit bald 20 Jahren hat niemand mehr die Fässer untersucht.
Schweiz soll gefährliche Fässer bergen
Das soll sich nun ändern: In Deutschland verlangen Grüne und Umweltschützer, dass die Fässer aus dem Ärmelkanal entfernt werden. Und auch in der Schweiz werden Massnahmen gefordert. «Aus den Augen, aus dem Sinn ist ein sehr gefährliches Credo. Die Fässer sollten untersucht und, sofern sie sich als potenziell gefährlich herausstellen, geborgen werden, sagt Sabine von Stockar von der Schweizerischen Energie-Stiftung.
Ins gleiche Horn stösst Greenpace: «Es braucht unbedingt ein Monitoring, wenn nötig auch eine Bergung. Wir müssen wissen, was mit der Radioaktivität passiert und welche negativen Auswirkungen sie auf die Meeresfauna hat», so Sprecherin Sibylle Zollinger. Noch weiter geht der grüne Nationalrat und Atomkritiker Geri Müller: Für ihn ist die Schweiz gesetzlich verpflichtet, den Atommüll zu bergen. «Es muss alles zurück bis aufs letzte Gramm.»
Atomlobby sieht keine Gefahr
Die Schweiz soll eine entsprechende internationale Mission anstossen, fordert Müller – finanziert durch die Verursacher des Mülls. «Die Bergung darf keine Frage der Kosten sein, solange der Atomstrom so billig ist.» In der Tat sieht das Kernenergiegesetz eine Entsorgungspflicht vor, die erst erfüllt ist, wenn der radioaktive Abfall in einem geologischen Tiefenlager oder einer Entsorgungsanlage ist. Allerdings gilt das Gesetz erst seit 2003.
Entsprechend sieht Matthias Rey vom Nuklearforum die Atomlobby auch nicht in der Pflicht. Da es sich bei den Abfällen aus der Schweiz nicht um hochradioaktive Abfälle handle, «gehen wir davon aus, dass eine Bergung des Materials aus der Schweiz nicht nötig ist». Die potenzielle Gefährdung schätzt er in Anbetracht der Tiefe und der natürlichen Radioaktivität des Meerwassers als sehr gering ein. Das Ensi wollte zu dieser Frage nicht Stellung nehmen.