ErnährungswahnVegan, glutenfrei oder Paleo – alles nur Show?
Veganer sein, damit es den Tieren gut geht – von wegen. Anhänger von Ernährungsstilen wollen sich vor allem inszenieren, sagen Experten.

Wer sich zu viele Gedanken über eine gesunde Ernährung macht, kann den Appetit verlieren.
Kein Anbieter/Getty Images/iStockphoto/UndreyElisa ist Veganerin, Marc hat sich der Paleo-Diät verschrieben, bei Petra kommen keine glutenhaltigen Speisen auf den Tisch und Leon schwört auf Bio-Produkte. Lieber als nach Herzenslust zu essen, folgen zahlreiche Frauen und Männer einem Ernährungsdiktat. Dass sich die Ernährungsbewussten aus tiefer Überzeugung einer Diät verschreiben, stellt der deutsche Ernährungspsychologe Thomas Ellrott im «Spiegel» jedoch in Abrede: «Immer häufiger geht es um Selbstinszenierung und Zugehörigkeit.» Früher sei wichtig gewesen, zu welchem Sportverein man gehöre oder welches Auto man fahre. Heute identifizierten sich die Menschen vermehrt über die Ernährung. Exemplarisch zeige sich dies in den sozialen Medien: «Am meisten getwittert wird derzeit über Vegetarismus und vor allem Veganismus.»
Das Phänomen bestätigen auch andere Fachpersonen. «Die meisten Anhänger eines Ernährungsstils sind nicht aus einem inneren Idealismus dabei», stellt Ernährungsberaterin Sonja Ricke fest. Vielmehr gehe es darum, dazuzugehören und zu zeigen, wie toll man sei. «Dass die Ernährung Vorteile haben könnte, wird fast ausgeblendet.» Laut Konsumpsychologe Christian Fichter legen die Anhänger von Ernährungstrends grossen Wert auf die Wahrnehmung der anderen Menschen. «Sie wollen eine gesunde Ausstrahlung haben und einen schönen, attraktiven Körper präsentieren.» Sonja Ricke vergleicht die Anhänger einer Ernährung sogar mit den Trägern bestimmter Kleiderlabels. «Heute ist Essen eine Mode.»
Veganer verschmutzt Luft
Die Trend-Anhänger verraten sich schnell. Ein Mainstream-Veganer sei stolz darauf, keinen Wollpullover zu tragen, fällt Sonja Ricke auf. «Ob das Material in seiner Matratze auch vegan ist, hinterfragt er aber nicht.» Symbolisch für die Selbstinszenierung in der Ernährung ist Thomas Ellrotts Beispiel: «Jemand trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift «I am vegan» und fährt einen riesigen Pick-up-Truck.» Oder jenes eines Veganers, der einmal First Class nach Hawaii und zurück flog, um sich seinen Vielfliegerstatus zu sichern.
Was treibt die Menschen dazu, sich via Essen zu verwirklichen? Experten führen den überhöhten Wert der Ernährung auf die veränderten Lebensumstände zurück. Thomas Ellrott spricht von einer schwer überschaubaren Welt und dem Verlust von tradierten Ordnungssystemen wie Religion und Familie. «Wir sind auf der Suche nach Identität und nach Sinn.» Sonja Ricke kommt zu einem ähnlichen Schluss. Die Menschen suchten Sicherheit und Stabilität. «Einer Diät zu folgen, gibt einem das Gefühl, die Kontrolle über den Körper und damit über das Leben zu haben.»
«Was ist Appetit?»
Christian Fichter verbindet den Ernährungs-Hype aber nicht nur mit der Selbstinszenierung. «Gesundheit ist für viele Menschen das oberste Ziel, um den hohen Leistungserwartungen in der heutigen Berufswelt gerechtzuwerden.» Der Konsumpsychologe ist deshalb überzeugt, dass sich der Fokus auf die Ernährung in den nächsten Jahren noch weiter verstärken wird.
Sonja Ricke warnt derweil vor einer «essgestörten Gesellschaft». Sie berichtet von Klienten, die durch den Ernährungs-Hype in eine Magersucht abrutschten. Beunruhigend für die Ernährungsberaterin ist zudem: «Frage ich Klienten, wann sie das letzte Mal Hunger hatten, können sie sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern.» Einige Menschen hätten im Ernährungswahn den Appetit verloren.