Was der IV-Detektor über mein Gehirn sagt

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Hirnscan-SelbsttestWas der IV-Detektor über mein Gehirn sagt

Dass die Luzerner IV-Stelle psychisch Kranke mit einem Hirnscanner überprüft, sorgt für Wirbel. Doch was kann das Gerät überhaupt? Ein Selbsttest.

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S. Hehli/R. Assenberg (Video)

Peter Balbi, leitender Arzt des Regionalen ärztlichen Dienstes Luzern, der mit der IV-Stelle zusammenarbeitet, erklärt, wie die Hirnstrommessung genau funktioniert.

Da sind sie wieder: die beiden Wölfe, die kurz hintereinander auf dem Bildschirm aufblinken. Ich klicke so schnell wie möglich mit der Maus, denn das ist mein Signal. Folgt hingegen ein Wolf auf eine Pflanze, bleibt mein Finger regungslos. Die Aufgabe ist simpel und ich bin entspannt – für mich gilt es schliesslicht nicht ernst. Für die Menschen, die normalerweise auf diesem Stuhl sitzen, können die Folgen hingegen gravierend sein: Der Test gibt unter Umständen den Ausschlag darüber, ob sie eine IV-Rente bekommen oder nicht.

Ich sitze in einem Büro in Luzern. Gross war der Medienrummel, als Anfang Jahr bekannt wurde, dass die Luzerner IV-Stelle in einem Pilotprojekt Rentenanwärter einer Hirnstrommessung unterzieht. So versucht man herauszufinden, wer seine psychischen Leiden übertreibt – oder vielleicht auch untertreibt. Die Methode provoziert Kritik: Der Zürcher Anwalt Philip Stolkin sagte in der «WOZ», die Messungen würden «gegen das Recht auf Menschenwürde und Privatsphäre» verstossen. Die Sozialversicherungen würden Menschen erniedrigen, um Leistungen zu sparen, so Stolkin.

Manipulation: aussichtslos

Bei mir stellt sich die Frage nach einer Rente nicht – so fühle ich mich auch nicht erniedrigt, als ein Mitarbeiter der IV-Stelle meinen Kopf mit Elektroden verdrahtet und mir eine blaue Mütze aufsetzt, die an eine Badekappe erinnert. Ich will der Sache auf den Grund gehen: Was kann dieses Gerät über mein Hirn aussagen? Minutenlang klicke ich mich durch den Test, der so monoton ist, dass ich zwischendurch fast wegdöse.

Ein anderer Bildschirm zeigt meine Hirnströme an. Doch diese Bilder sagen noch nichts aus – ebenso wenig wie meine Reaktionszeit. Denn die Aufgabe mit den Tieren und Pflanzen dient einzig dem Zweck, das Hirn zu Höchstleistungen zu treiben. Und die elektrischen Impulse in den verschiedenen Hirnregionen lassen sich dann messen. Wollte ich den Test manipulieren, indem ich eine verlangsamte Reaktion vortäusche, es würde nichts nützen: Auch für das Täuschungsmanöver müssten meine Hirnzellen arbeiten.

«Nur ein Puzzlestück der Abklärung»

Nach 20 Minuten ist der Test für mich vorbei. Ganz anders läuft es bei psychisch Kranken, die eine Rente beanspruchen: Experten prüfen zwei Tage lang mit weiteren Tests ihre Arbeitsfähigkeit. Donald Locher, Leiter der IV-Stelle Luzern, wehrt sich deshalb gegen die Vorstellung, dass alle potenziellen Rentner an die Maschine gehängt werden und die Prüfer allein aufgrund dieses Resultats den Daumen heben oder senken. «Der Test ist nur ein Puzzlestein der ganzen Abklärung.»

Die starke Zunahme psychisch bedingter IV-Renten seit den 90er-Jahren brachte ein grosses Problem zum Vorschein: Die Psychiatrie tut sich schwer mit objektiven Diagnosen, die dem Leiden der Patienten gerecht werden. Das motivierte die SVP zu ihrem Kampf gegen die «Scheininvalidität» – kein Wunder, sind Gesundheitspolitiker der Partei wie Toni Bortoluzzi oder Jürg Stahl von der neuen Methode begeistert. Kritiker hingegen sehen darin ein generelles Misstrauensvotum gegenüber psychisch Kranken. Donald Locher widerspricht: «Die Hirnstrommessung brauchen wir lediglich für die komplexen Fällen, in denen es widersprüchliche Expertenmeinungen gibt.»

2013 waren das laut Locher 60 Fälle – von insgesamt 7000 Fällen psychisch Erkrankter. Die Tests ergaben bei 60 Prozent, dass sie ihre Leiden wirklich übertrieben haben. Bei 40 Prozent der Probanden hingegen waren die Hirnleistungen stärker beeinträchtigt, als sie selber gedacht hatten.

Erklärungen per Skype

Die Auswertung meines Tests kriege ich an diesem Tag in Luzern nicht mehr, zu aufwendig ist die Analyse. Eine Woche später kommt per Post ein 16-seitiges Dossier mit vielen bunten Grafiken. Und mit Sätzen wie diesem: «Die Assoziationsareale im rechtsseitigen superioren Temporalkortex sowie im rechtsseitigen paretalen Kortex erhalten Informationen vom okzipitalem Kortex mit seinen eigenen Assoziationsarealen.»

Der Mann, der solche Sätze auch dem Laien verständlich macht, ist Andreas Müller. Der Psychotherapeut und Hirnforscher aus Chur arbeitet eng mit der Luzerner IV-Stelle zusammen – und erklärt mir per Skypeschaltung, was er über mich herausgefunden hat. Dazu hat er die in Luzern gemessenen Hirnströme mit den Werten gleichaltriger, gesunder Referenzpersonen verglichen – und zwar für verschiedene Regionen des Gehirns. Das sieht dann am Beispiel der Verarbeitung visueller Inputs so aus:

Die blaue Kurve ist meine, die rote steht für die durchschnittlichen Werte der Gleichaltrigen, die schwarze für die Differenz. Mein Hirn reagiert also ein bisschen schneller auf bildliche Eindrücke. Ähnlich sieht es bei den rechten Assoziationsarealen aus: «Sie sind offensichtlich darauf trainiert, eine Situation rasch zu erfassen und zu interpretieren – das schadet bei einem Journalisten nichts», meint Doktor Müller trocken.

Schön und gut. Doch welche Erkenntnisse lassen sich daraus ziehen, wenn ein Hirn ganz anders tickt als im Durchschnitt? Es komme darauf an, bei welchen Hirnfunktionen das Problem liege, so Müller. Reagiert eine Sachbearbeiterin beispielsweise intensiv auf Geräusche, könnte ihre Hypersensitivität zum Problem werden – gerade in einem lärmigen Grossraumbüro. Die IV-Stelle wird dann versuchen, sie in einem anderen Job unterzubringen.

«Im Interesse aller psychisch Kranken»

Arbeitet ein Hirn immer im hochtourigen Bereich, können irgendwann Erschöpfungszustände auftreten – das zeigt sich bei einer Analyse der sogenannten Exekutivfunktionen. Aber auch das Gegenteil ist problematisch: Personen mit sehr tiefer Aktivierung können nicht auf ein Ziel hinarbeiten. «Aufmerksamkeitsstörungen sind dafür ein typisches Beispiel», erklärt Müller. Aus einem weiteren Scan lässt sich herauslesen, ob die Impulskontrolle funktioniert oder jemand immer gleich aufbrausend reagiert.

Ich spreche Müller auf die Kritik an der Methode an. «Wird sie ganzheitlich angewandt – also im Verbund mit anderen Diagnoseinstrumenten – erbringt sie hochzuverlässige Resultate.» Ein tolles Instrument für die Jagd auf Simulanten, also? Müller winkt ab: «Wenn man mit dieser Einstellung an ein Problem herangeht, hat man schon verloren!» Zuverlässige Messungen und objektiv prüfbare Aussagen seien letztlich zum Wohle aller – «insbesondere der schwer psychisch Kranken, die dringend auf Unterstützung angewiesen sind».

Das Skype-Gespräch ist zu Ende. Mein Hirn ist noch mit dem Verarbeiten der Eindrücke beschäftigt – und ich bin ganz froh, dass dabei keine Elektroden an meinem Schädel kleben.

Was kann die Methode der Hirnstrommessung – und was nicht? Das Fazit von Andreas Müller im Video:

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