ETH muss Behindertem 10'000 Franken zahlen

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Studium verweigertETH muss Behindertem 10'000 Franken zahlen

Jürg Brechbühl studiert an der ETH – gegen den Willen der Hochschule. Die kämpfte gegen seine Zulassung. Das kommt sie nun teuer zu stehen.

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J. Furer/S. Ehrbar
Jürg Brechbühl ist invalide. Bei einem fremdverschuldeten Autounfall erlitt er 1995 eine Hirnverletzung. Nach jahrelanger Rehabilitation schaffte der 55-Jährige einen Diplomabschluss als Biologe an der Universität Bern.
Doch als er sich 2018 für ein Masterstudium an der ETH anmeldete, verweigerte diese die Zulassung. «Ich fiel aus allen Wolken. Das ist diskriminierend. Die ETH verstösst bewusst und geplant gegen das Behindertengleichstellungsgesetz.»
Nun hat Brechbühl einen Sieg errungen: Die ETH-Beschwerdekommission entschied, dass die ETH ihn zum Studium zulassen und ihm 10000 Franken Entschädigung bezahlen muss.
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Jürg Brechbühl ist invalide. Bei einem fremdverschuldeten Autounfall erlitt er 1995 eine Hirnverletzung. Nach jahrelanger Rehabilitation schaffte der 55-Jährige einen Diplomabschluss als Biologe an der Universität Bern.

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Die ETH will Jürg Brechbühl (55) nicht als Studenten. Im März 2018 meldete er sich für das Masterstudium in Umweltnaturwissenschaften an. Doch die ETH wies ihn ab. Grund: Sein Studium würde wegen seiner Behinderung zu lange dauern. Brechbühl ist invalide, seit er 1995 bei einem fremdverschuldeten Autounfall eine Hirnverletzung erlitt.

«Ich bin aus allen Wolken gefallen», sagt Brechbühl gegenüber 20 Minuten. «Das ist diskriminierend. Die Hochschule verstösst bewusst und geplant gegen das Behindertengleichstellungsgesetz. Sie schliesst behinderte Bewerber von vornherein vom Studium aus», sagte der 55-Jährige. Er kämpfte deshalb juristisch um seine Zulassung. Wieso er studieren will, hat er in seinem Blog ausgeführt.

10'000 Franken Entschädigung

Nun hat Brechbühl einen Sieg errungen. Die ETH-Beschwerdekommission hat seiner Intervention stattgegeben. Seit dem 27. September ist der Biologe immatrikuliert, die ETH muss ihn laut dem Urteil, das 20 Minuten vorliegt, nicht nur zum Studium zulassen, sondern ihm auch 10'000 Franken Entschädigung bezahlen. Das decke seine Anwaltskosten bei weitem nicht, sagt Brechbühl. Er habe an die 18'000 Franken aufwenden müssen.

Brechbühl ist aber froh über den Entscheid – auch wegen dessen Signalwirkung. «Die ETH will Behinderte praktisch ausschliessen. Nicht jeder 20-Jährige hat Geld für die Anwaltskosten übrig oder genug Zeit, um sich das Studium zu erkämpfen. Ich will, dass es Jüngere leichter haben als ich.»

Abschluss als Diplom-Biologe

Die ETH hatte die Verweigerung der Zulassung damit begründet, dass ein älteres Arztzeugnis Brechbühl eine Studierfähigkeit von 20 Prozent zugestehe. Sein Studium daure damit mindestens zehn Jahre und somit mehr als die Regelstudienzeit. Zudem sei es Brechbühl gar nicht möglich, das obligatorische Praktikum zu absolvieren.

Vergeblich hatte Brechbühl, der nach jahrelanger Rehabilitation einen Abschluss als Diplom-Biologe an der Universität Bern erlangt hatte, bei der Anmeldung an der ETH argumentiert, dass er 2016 während seinem Studium in Bern bereits ein sogenanntes Mobilitätssemester an der ETH absolviert hatte und dabei 23 der üblichen 30 Kreditpunkte mit einem Notendurchschnitt von 5,5 erworben hatte. Während eines Mobilitätssemester können interessierte Studenten eine andere Hochschule kennenlernen. Auch ein anderslautendes Arztzeugnis sei nicht berücksichtigt worden, so Brechbühl.

«Im Studium integriert»

Im Studium selbst habe er keinerlei Probleme. «Das Vorgehen des Rektorats steht im krassen Gegensatz zum vorbildlichen Verhalten der Dozenten wahrend meines Mobilitätsstudiums an der ETH, die mich immer sehr gut integrierten und Lösungen fanden, wenn meine Einschränkungen eine Rolle spielten.» Er sei vorbildlich integriert worden. Auch der Kontakt mit den jüngeren Studienkollegen sei positiv: «In Gruppenarbeiten bin ich vollständig integriert, darf widersprechen, wenn ich als Biologe etwas genauer weiss und die jungen Kollegen belehren mich, wenn sie aus dem Bachelorstudium besser Bescheid wissen.»

Vor der Beschwerdekommission fanden Brechbühls Argumente Anklang. Sie kam zum Schluss, dass die ETH nicht einfach davon ausgehen dürfe, dass Brechbühl fünfmal länger als die Regelstudienzeit benötige für sein Studium. Dass Brechbühl das vorgesehene Praktikum nicht absolvieren könne, dürfe als Annahme ebenfalls kein Grund für die Nichtzulassung sein. Nicht gelten liess die Kommission auch das Argument der ETH, dass Brechbühl bei seinem Studienabschluss kurz vor dem Pensionierungsalter stehe.

ETH weist Vorwürfe zurück

Von der Schulleitung ist Brechbühl enttäuscht. «Fast 22'000 Menschen studieren an der ETH, gerade einmal 38 solcher Gesuche wie meines gibt es jährlich. Die ETH will solche Leute von Anfang an ausschliessen. Aber das Gesetz gilt auch für sie.» Seine Abweisung sei kein Einzelfall, sagt Brechbühl. «Auch anderen Studienbewerbern ergeht es so.»

Die vor der Beschwerdekommission unterlegene ETH widerspricht dem Vorwurf, systematisch Behinderte zu diskriminieren. «Die Vorwürfe sind haltlos, wenn man sieht, wie viel an der ETH zur Unterstützung von Menschen mit einer Behinderung getan wird», sagt Sprecherin Franziska Schmid. An der ETH arbeiteten und studierten Menschen mit körperlichen, psychischen oder kognitiven Einschränkungen. Bei Brechbühl handle es sich um einen speziellen Einzelfall.

ETH akzeptiert Urteil

Die ETH hält trotz Urteil an ihrer Argumentation fest, dass der 55-Jährige zu lange für ein Studium hätte und verweist dazu auf das Arztzeugnis. «Er hätte rund zehn Jahre benötigt, um das Studium zu beenden, also etwa das Zweieinhalbfache der maximal erlaubten Dauer von vier Jahren», so Schmid. «Beim Abschluss des Studiums wäre er über 65 Jahre alt gewesen. Dies erachtete die ETH nicht als verhältnismässig und hat deshalb die Zulassung abgelehnt.» Den von der Beschwerdekommission gefällten Entscheid will die ETH dennoch nicht anfechten.

Es könne sein, dass die ETH behinderte Studierende auch in Zukunft im Einzelfall nicht zulässt. Das sei gesetzlich erlaubt. Die ETH setze eine Studierfähigkeit von mindestens 33,3 Prozent voraus, auch die Beschwerdekommission sehe das als vernünftig an. «Ein ETH-Studium ist in jeder Hinsicht sehr anspruchsvoll. Für Menschen mit Beeinträchtigungen können auf begründeten Antrag hin individuelle Massnahmen getroffen werden», so Schmid. Rund 50 Personen erhielten zurzeit einen Nachteilsausgleich für Leistungskontrollen.

Die Hochschule ermögliche vielen Menschen mit einer Behinderung ein Studium. Für einen Studenten, der einen Rollstuhl benötige, sei etwa eigens eine Arbeitsgruppe einsetzt worden, die den Zugang zu allen Räumen des Studium sichergestellt habe, sagt Schmid. «Der Vorwurf, dass die ETH Studierende mit einer Behinderung systematisch ausschliesst oder diskriminiert, ist unhaltbar.»

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