Die Kulturgeschichte der Playoff-Bärte

Aktualisiert

«Time-out»Die Kulturgeschichte der Playoff-Bärte

Das Playoff-Finale ist nicht nur der Kampf auf dem Eis um den Meistertitel. Es ist auch ein Wettstreit der bärtigen Männer, deren Brauch aus Nordamerika kommt.

von
Klaus Zaugg

In den Playoffs wird um den längsten Bart gespielt: Die Spieler (und manchmal auch die Coaches und Betreuer) rasieren sich ab Playoff-Start bis zum Tag des Ausscheidens (oder der Meisterfeier) nicht mehr. Deshalb wird der Meistertitel zwischen den Männern mit den längsten Bärten ausgespielt.

Männer, die sich im Sport nicht mehr rasieren. Das gibt es nur in den Eishockey-Playoffs. Dieser Brauch kommt aus Nordamerika und zeigt uns einmal mehr, wie sich Symbole und Bräuche in Gesellschaft, Kultur und Politik verändern.

Ein Schillerfalter als Ursprung

Die Idee, in den Playoffs Schnauz und Bart wachsen zu lassen, hatte Anfang der 1970er-Jahre der Rock 'n' Roller Derek Sanderson. Der Stürmer der Boston Bruins war die schillerndste Figur seiner Epoche und hatte mehr Medienpräsenz als damalige Superstars wie Bobby Orr. Er gewann mit Boston zweimal den Stanley Cup und war 1968 NHL-Neuling des Jahres. Er hatte in Boston seine eigene TV-Talkshow, sass in allen berühmten US-Talkshows seiner Zeit und managte mehrere Bars und Nachtclubs in Boston. Nach seinem Wechsel von der NHL in die damalige Konkurrenzliga World Hockey Association (WHA) war er mit 2,8 Millionen Dollar Jahreslohn kurzzeitig der bestverdienende Sportler der Welt. Er fuhr einen Rolls Royce und gab das Geld mit beiden Händen aus: Er pflegte, wenn er irgendwohin zum Golfspielen flog, vor Ort eine komplette Ausrüstung zu kaufen und verschenkte alles vor dem Heimflug seinem Caddy.

Er war ein Grenzgänger. Sex, Kokain, Schmerzmittel, unzählige Frauen und Alkohol ruinierten seine Karriere. Auf die Frage, was es bedeute, Millionär zu sein, sagte er einmal öffentlich: «Sex mit einem Model im Hilton in Paris statt mit einer Studentin in einem Motel in Daytona.» Im Vergleich zu Derek Sanderson war selbst einer wie Todd Elik ein Chorknabe.

Der Absturz nach dem Rücktritt von 1978 war brutal. Zeitweise war er obdachlos und schlief in New York unter Brücken. In den 1990er-Jahren hat er den Weg zurück ins richtige Leben gefunden. Er ist inzwischen verheiratet, Familienvater und ein angesehener TV-Experte. Derek Sanderson behauptet in seiner soeben erschienenen Autobiografie «Crossing the Line», es sei in Boston seine Idee gewesen, sich ab Playoff-Beginn nicht mehr zu rasieren und dies sei der Anfang dieses Brauches gewesen. Heute lassen sich die Spieler und Betreuer auf der ganzen Welt während der Playoffs Schnauz und Bart wachsen.

Zeiter auf den Spuren Sandersons

Derek Sanderson hatte noch mehr revolutionäre Ideen: Er wollte auch in weissen Schlittschuhen spielen. So wie es 30 Jahre später Michel Zeiter bei den ZSC Lions tun sollte. Doch das lehnte Bostons Management ab. Eishockeyspieler mit Bärten waren in den 1970er Jahren geradezu eine Kulturrevolution. Die meisten NHL-Teams hatten damals in ihren Spielerverträgen oder zumindest in den Team-Regeln ein absolutes Schnauz- und Bartverbot und viele Teams tolerierten auch lange Haare nicht. Gesichtsbehaarung galt als Symbol für Weichheit und die Nähe zur Hippie-Bewegung, die 1967 nach dem «Summer of Love» in Nordamerika von einer Nischenkultur zu einer Massenbewegung geworden war. Eishockey als stockkonservative Welt der harten Männer war so ziemlich der Gegenpol zur Hippie-Bewegung.

Womit uns das Eishockey lehrt, wie sich die Zeiten ändern. Was einst das Symbol der Hippie-Jungs war, markiert jetzt die härtesten der harten Männer im härtesten Mannschaftsport der Welt. Niemand denkt inzwischen beim Anblick von bärtigen Hockeyspielern an Woodstock.

Eine Quali lang nicht rasieren

Inzwischen ist es sogar an der Zeit, dass irgendeiner mit einer neuen Playoff-Idee kommt. Wie wäre es, sich während der ganzen Qualifikation nicht zu rasieren und dann mit sorgfältigster Rasur vor den Playoffs aufzuwarten? Rasieren dürften sich nach der Qualifikation nur die für die Playoffs qualifizierten Spieler. Die anderen müssten sich zur Strafe die Bärte weiterhin bis Ende Saison wachsen lassen. Aus diesem Rasurbrauch liesse sich erst noch eine prima Werbeaktion mit Rasierern oder Parfüms machen.

Neben der Ehrung der Postfinance-Topskorer liesse sich auch die «Spielerschur» gut vermarkten. Eine Miss oder doch wenigstens eine Ex-Miss könnte mit sanftem Streicheln der Wangen überprüfen, ob auch schon gründlich rasiert worden ist. Die Langnauer und die Lakers würden bei diesem Brauch nicht nur meistens spielen wie Samichläuse. Sie sähen dann auch so aus.

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