Captain Minus und die Versager aus der NHL

Aktualisiert

«Time-out»Captain Minus und die Versager aus der NHL

Wir haben auf dem Papier das beste WM-Team der Neuzeit. Aber ausgerechnet die grössten Namen – die drei NHL-Stammspieler – sind die grössten Versager.

von
Klaus Zaugg
Helsinki

Finnland gehörte einst zum Reich des russischen Zaren. Wenn Mitglieder der Herrscherfamilie nach Helsinki kamen, fuhren sie in Kutschen mit goldverzierten Rädern durch die Stadt. So konnte jeder einfache Bürger den hohen Besuch sofort an den Rädern des Fuhrwerks erkennen und sich entsprechend untertänig verhalten.

Bei den Hockeystars gibt es auch solche, die sofort als Stars respektiert und entsprechend verehrt werden. Sie sind nicht an goldenen Rädern zu erkennen, aber an der Bezeichnung NHL. Ein NHL-Profi gehört auch an einer WM sozusagen zur herrschenden Klasse der Hockeyspieler.

Miserable Bilanzen

Mark Streit, Luca Sbisa und Nino Niederreiter sind die drei NHL-Profis in unserem WM-Team. Würden die drei Martin Frieden, Lukas Spessa und Dino Oberreiter heissen und nicht in Anaheim oder New York, sondern in Bern oder Langnau unter Vertrag stehen, so stünden sie jetzt hier in Helsinki im Zentrum der Polemik.

Die statistischen Bilanzen sind nämlich miserabel. Mark Streit: Minus drei. Luca Sbisa und Nino Niederreiter: Minus vier. Alle anderen Verteidiger und Stürmer in unserem WM-Team sind besser und nur noch die Stürmer Andres Ambühl (-3), Benjamin Plüss (-2), Morris Trachsler (-1) und Roman Wick (-2) haben eine Negativ-Bilanz.

Mark Streit, Luca Sbisa und Nino Niederreiter drei gehören zu den Vätern der 2:3-Niederlage gegen Kanada: Streit und Niederreiter standen bei zwei Gegentreffern auf dem Eis. Sbisa sogar bei allen drei.

Alle drei NHL-Cracks nicht in Form

Aber weil Mark Streit, Luca Sbisa und Nino Niederreiter NHL-Profis sind, also Stammspieler in der besten und wichtigsten Liga der Welt, bleibt die Kritik leise. Zu gross ist der Respekt vor den Karrieren dieser drei NHL-Stars.

Ist Polemik angesagt? Ja. Alle drei sind nicht in Form. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zu Mark Streit: Der Captain der New York Islanders ist kein Defensiv-Verteidiger. Er hat mit minus 27 die drittschlechteste Plus/Minus-Bilanz des ganzen Teams – bei 7 Toren und 40 Assists in 82 Qualifikationsspielen recht erstaunlich. Aber die New York Islanders waren letzte Saison ein «Lotterteam» mit der viertschlechtesten Abwehr der NHL und ohne Chance auf den Playoffs. Letztlich kam es auf ein paar Minustore mehr oder weniger und ein paar schlechte defensive Gewohnheiten nicht an.

Streit defensiv eine Nullnummer

Mark Streit ist vorwärts einer der besten und spektakulärsten und produktivsten NHL-Verteidiger. Defensiv ist er hingegen eine Nullnummer und er hat die drittschlechteste Plus/Minus-Bilanz aller statistisch erfassten 297 NHL-Verteidiger! Bei den New York Islanders und an dieser WM gilt: «Captain Minus».

Seine Defensiv-Leistung an der WM entspricht also ziemlich genau dem, was aufgrund seiner NHL-Saison erwartet werden durfte: Vorwärts Weltklasse (2 Tore/2 Assists in 4 Spielen), defensiv hingegen ungenügend. Kommt dazu, dass Mark Streit die letzte WM 2009 noch unter Ralph Krueger in taktisch wohlgeordneten Verhältnissen bestritten hat. Er zeigt sich denn auch gegenüber 20 Minuten Online einigermassen überrascht von der Unordnung im Spiel beziehungsweise der fehlenden Abstimmung und den vielen gegnerischen Kontern.

Sbisa und das grosse Eisfeld

Luca Sbisa ist eher ein Defensivverteidiger und mit minus 5 hatte er bei Anaheim in dieser NHL-Saison eine viel bessere Plus-/Minus-Bilanz als Mark Streit. Aber er ist auf den schmäleren nordamerikanischen Eisfeldern gross geworden und hat im Erwachsenenalter nur gerade die letztjährige WM auf den europäischen Eisbahnen gespielt. Vorletzte Saison spielte er in Anaheim eine viel defensivere Rolle (68 Spiele/11 Punkte) als in der soeben beendeten NHL-Qualifikation (80 Spiele/24 Punkte). Diese offensivere Ausrichtung im Spiel ist ihm bisher an dieser WM zum Verhängnis geworden. Zumal er neben sich mit Mark Streit einen defensiv unzuverlässigen Partner an der blauen Linie hat.

Verlorenes Selbstvertrauen bei «El Niño»

Nino Niederreiter schliesslich ist der defensiv schwächste NHL-Stürmer der Saison 2011/12. Mit minus 29 ist er statistisch in der Plus/Minus-Liste die Nummer 597 von 597 statistisch erfassten NHL-Stürmern. An dieser WM wäre also alles andere als die miserabelsten Plus/Minus-Bilanz unserer Stürmer eine grosse Überraschung. Kommt dazu, dass er im Laufe dieser Saison nicht nur sein Selbstvertrauen (1 Tore), sondern auch seinen Spielrhythmus verloren hat: Bei Einsätzen von rund 10 Minuten pro Spiel ist sein Talent bei den Islanders verkümmert.

Niederreiter kommt hier in Helsinki zwar auf für ihn inzwischen ungewohnte 18:40 Minuten Einsatzzeit pro Partie. Aber er hat im Laufe der Saison viel von seiner Antrittsschnelligkeit und seiner Beweglichkeit verloren und ist im Grunde läuferisch nur noch bedingt WM-tauglich. Er spielt hier vielleicht 40 Prozent seines läuferischen und technischen Potenzials aus.

Defensive Steigerung dringend nötig

Wie wir es auch drehen und wenden: Wenn die Schweizer in Helsinki das Viertelfinale erreichen wollen, dann braucht es in allererster Linie eine ganz gewaltige defensive Steigerung der drei NHL-Profis Mark Streit, Luca Sbisa und Nino Niederreiter. Und wir lernen noch etwas: Das Niveau des europäischen Hockeys wird etwa im gleichen Masse unterschätzt, wie die NHL überschätzt wird.

P.S. Mit Roman Josi steht uns für die Partien gegen Frankreich, die Slowakei und die USA (und im Falle eines Falles für die Viertelfinals) ein NHL-Verteidiger zur Verfügung, der aufgrund seiner Saisonstatistik (52 Spiele/5 Tore/11 Assists/+1) eine Verstärkung sein wird.

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