Zwischenbilanz von Gattuso«Lebensqualität? 10:0 für die Schweiz»
Seit Gennaro Gattuso beim FC Sion spielt, ist im Wallis die Hölle los. Vor den Medien sprach der Weltmeister über die vielen Trainerwechsel, die Lebensqualität – und seine Sucht nach Fussball.
Vier Monate spielt der Weltmeister und zweifache Champions-League-Sieger aus Italien nun im Wallis. Interviews war Gennaro Gattuso bisher ausgewichen wie der Teufel dem Weihwasser. Weil sich die Anfragen beim FC Sion inzwischen stapelten, entschied sich der ehemalige Milanista am Donnerstag, im Rahmen einer Medienkonferenz Red und Antwort zu stehen. Der Superstar liess aber lange auf sich warten. Mit 25-minütiger Verspätung trat er total «tranquillo» vor die wartenden Journalisten.
Gennaro Gattuso, Sie sind seit vier Monaten im Wallis. Wie fällt Ihre erste Bilanz aus?
Gennaro Gattuso: Meine Bilanz fällt positiv aus. Es ist so ziemlich alles so eingetroffen, wie ich es erwartet hatte. Ich und meine Familie fühlen uns wohl hier. Meine Kinder sind hier glücklich und dann geht es mir auch gut. Aber ... (verstummt)
... aber?
Ich habe in meiner zwanzigjährigen Karriere gerade mal zehn Trainer gehabt und hier nun schon drei – in lediglich vier Monaten. Das ist schwierig. Schwierig für die Spieler, den Staff, aber auch für die Fans. Sébastien Fournier habe ich beispielsweise sehr geschätzt und ich bedauere es sehr, dass er nicht mehr beim FC Sion ist.
Wieso? Sie sollen bei seiner Nachfolge doch mitgewirkt haben?
Das habe ich im «Blick» auch gelesen und kann Ihnen versichern, dass das nicht wahr ist. Ich hatte ein gutes Einvernehmen mit Fournier und seine Arbeit auf einem taktisch und technisch hohen Niveau sehr geschätzt. Wir hören uns ja heute noch. Wir haben fast zwei Monate tagtäglich, fast rund um die Uhr, gemeinsam für die Mannschaft gearbeitet. Es war seine und auch die Entscheidung des Vereins. Aber es hat mir weh getan, dass er gehen musste.
Aber wie viel Einfluss nehmen Sie tatsächlich bei Präsident Christian Constantin?
Ich spreche über die Spiele und über Strukturen mit dem Präsidenten. Ich versuche, meine Erfahrung einzubringen und weiterzugeben und meine Verantwortung als Spieler wahrzunehmen. Wir haben eine schlagkräftige Mannschaft, die aber noch nicht ganz «fertig» ist. Es ist eine Mannschaft, die meiner Meinung nach unter den ersten drei klassiert sein sollte.
Und wie schätzen Sie die Schweizer Liga nach nunmehr 16 Runden ein?
Die Meisterschaft ist physisch anspruchsvoll. Es wird mit sehr hohem Tempo gespielt. Leider müssen wir oft vor wenigen Zuschauern spielen. Nehmen Sie das Beispiel am letzten Sonntag. St. Gallen hat ein schönes Stadion, die Atmosphäre wäre so gut gewesen, aber leider haben die Zuschauer gefehlt. Ich bedaure das, denn der Schweizer Fussball ist gut, das sieht man an den Punkten, die Schweizer Teams in den letzten Jahren in der Uefa-Wertung erreicht haben und auch daran, dass viele Spieler im Ausland erfolgreich spielen. Das Niveau ist wirklich sehr gut.
Und wie reagieren die Spieler auf Sie?
Für mich ist Fussball wie ein Krieg – auch wenn dies ein hässliches Wort ist. Ich respektiere jeden Gegner und will niemandem weh tun, aber ich muss voll drin sein, mit vollem Einsatz spielen. Der Spirit, die Winnermentalität muss da sein, und zwar bei der ganzen Gruppe, das macht alles einfacher.
Sie sind in Italien ein Superstar, Weltmeister und zweifacher Champions-League-Sieger. Hat Sie der Erfolg als Mensch verändert?
Ich habe meine Wurzeln nie vergessen, weil ich jetzt wohlhabend und bekannt bin. Ich weiss, woher ich komme. Ich spiele Fussball auch nicht des Geldes wegen. Ich will spielen. Ich liebe diesen Sport mit jeder Faser meines Körpers. Ich bin süchtig nach dem Geruch der Kabinen, dem Duft des Massage-Öls in den Katakomben. Der Sport gibt mir das Adrenalin, das ich im Leben brauche.
Heisst das, dass Sie nach ihrer Spielerkarriere eine Laufbahn als Trainer anstreben? Vielleicht sogar beim FC Sion?
Ich will Trainer werden, ja. Auf jeden Fall will ich es versuchen. Ich habe mich aber nicht mit dem Hintergedanken für Sion entschieden, dass ich hier einmal Trainer werde (lacht). Ich denke, unter Präsident Christian Constantin ist das nicht gerade die einfachste Aufgabe.
Abschliessend eine Frage abseits des grünen Rasens: Wie lebt es sich als Italiener in der Schweiz?
Sehr ruhig. Die Menschen im Wallis sind sehr respektvoll, gut erzogen und freundlich. Ich war unlängst in Bologna. Der Lärm, die Hektik – nach 20 Minuten hat mir der Kopf gebrummt. Die Lebensqualität im Vergleich zu Italien? 10:0 für die Schweiz und damit ist wohl alles gesagt.