Akribische VorbereitungLöw zerlegt Italien
500 Seiten Analysen, 900 Minuten Video: Jogi Löw überlässt vor dem Halbfinal gegen Italien nichts dem Zufall. In seinem Kriegszimmer schwört er sein Team auf die Schlacht ein.
Bei den Vorbereitungen zu einem EM-Spiel überlässt Joachim Löw nichts dem Zufall. Der deutsche Bundestrainer hat sich in den letzten Tagen bis ins letzte Detail über die Italiener informiert. Dafür setzt er sich täglich mit seinem Scouting-Team und Assistent Hansi Flick zusammen. Alles, was in den «War Rooms» des Hotel «Dwor Oliwski» in Danzig besprochen wird, ist streng geheim.
Normalerweise würde auch Urs Siegenthaler an diesen Besprechungen teilnehmen. Doch diesmal muss Löw aufgrund einer Erkrankung (Hörsturz) auf seinen bewährten Schweizer Chefscout verzichten. Stephan Nopp von der Sporthochschule Köln und Christofer Clemens haben Siegenthalers Aufgabe während der EM übernommen und liefern dem Bundestrainer detaillierte Analysen. Clemens ist HSV-Ausland-Chefscout und seit der WM 2006 festes Mitglied der DFB-Scoutingabteilung. 2004 war er als Mitarbeiter der Düsseldorfer Firma Mastercoach schon für den Schweizer Verband tätig und analysierte sowohl für die U21-Auswahl als auch für die A-Nati.
500 Seiten, 900 Minuten Video
An Datenmaterial mangelt es den Scouts nicht. Ausgewertet wurden die letzten Testspiele vor der EM und die Gruppenspiele. Beim Viertelfinal der Italiener gegen England war Clemens, zusammen mit acht Studenten der Sporthochschule Köln, live im Stadion, um Informationen zu sammeln.
Allein in diesem Spiel wurden 1500 Aktionen katalogisiert. Dazu kommen im Schnitt rund 900 Minuten Bildmaterial. Die Kunst ist, die Fülle an Information zu bündeln. Das Material bekommt Löw in einem 500 Seiten umfassenden Dossier vorgesetzt, das er dann mit seinen Spezialisten bespricht und seine Taktik danach festlegt. Dabei gilt Löw als noch akribischer als sein Vorgänger Jürgen Klinsmann. «Die Nummer sechs ist schnell und kann den Ball gut halten» reicht da längst nicht mehr.
«Die Wahrheit liegt auf dem Platz»
Erstellt werden neben dem Stärken- und Schwächenprofil auch biomechanische Bewegungsanalysen einzelner Spieler. Mit Wärmebildkameras in den Stadien kann festgestellt werden, wie viel ein Spieler gelaufen ist oder zu wie vielen Sprints er angesetzt hat. Sämtliche Lauf- und Passwege und vieles mehr sind dokumentiert. Zum Beispiel auch, welche Reaktionen Spieler zeigen, wenn sie unter Druck geraten. Das Bildmaterial wird für die Spieler auf die Länge von 10 bis maximal 15 Minuten zusammengeschnitten, damit sie nicht mit Reizen überflutet werden. Bei zu vielen Informationen stellen die Spieler gedanklich ab.
Neben den Sitzungen mit dem Trainer im «Kriegszimmer» gibt es vor den Spielen auch regelmässig Einzeltermine. So wurde Jérôme Boateng beim ersten Gruppenspiel der Deutschen gegen Portugal individuell auf Superstar Cristiano Ronaldo eingestellt.
Details sind den Analysten nicht zu entlocken. Schliesslich nützt Spionage nur, wenn man die dadurch gewonnenen Ergebnisse nicht ausplaudert. Fakt ist: Löw ist auf die Italiener vorbereitet und wird seine Taktik an die Mannschaft weitergegeben haben. Und Fakt ist auch: Alle Theorie ist nutzlos, wenn sie nicht umgesetzt wird. Oder wie es «König» Otto Rehhagel einst so treffend sagte: «Die Wahrheit liegt auf dem Platz.»