Gewaltdelikte«Der Mann als Opfer ist in der Gesellschaft ein Tabu»
Mike Mottl, Geschäftsleiter des Mannebüros in Zürich, erklärt im Interview, weshalb männliche Opfer in der Gesellschaft keinen Platz haben.
Darum gehts
Dino (26) und Marco (28) überlebten einen Tötungsversuch.
Bei beiden ist die Tat mehrere Jahre her, trotzdem leiden sie heute noch darunter.
Mike Mottl ist Geschäftsführer vom Mannebüro Zürich.
Er hat regelmässig mit Tätern und Opfern Kontakt.
Im Video erzählt Dino (26), wie er von einem Unbekannten fast zu Tode geprügelt wurde. Und Marco (28) spricht darüber, wie jemand mit einer Eisenstange auf ihn losging.
Mike Mottl ist Geschäftsleiter und Berater im Mannebüro in Zürich.
Herr Mottl, haben es männliche Opfer schwieriger als weibliche?
Ich will die Situation für weibliche Opfer auf keinen Fall klein reden. Aber die Gesellschaft ist sensibilisierter, wenn eine Frau Opfer einer Gewalttat wurde, als wenn dies einem Mann widerfährt. Der Mann als Opfer ist ein Tabu, das noch gebrochen werden muss.
Wie äussert sich das Tabu?
Der Prozess, den ein Mann durchmacht als Opfer, kann brutal sein. Das beginnt bei der Einvernahme bei der Polizei, die oft die noch sensibilisierteste Stelle ist. Im Umfeld zu erzählen, dass man von der Partnerin geschlagen wird, kann für viele eine Erniedrigung sein. Viele Männer berichten aber, dass das Schlimmste ist, dass sie gar nicht ernst genommen werden.
Kriminalstatistik
Mehr Delikte als im Vorjahr
Schwere Gewaltdelikte
Letztes Jahr wurden insgesamt 1668 schwere Gewaltstraftaten verzeigt, das sind 137 Straftaten mehr als 2019 (+8.9 Prozent). Der Anstieg ist insbesondere auf die Zunahme der versuchten Tötungsdelikte (+45 Straftaten), der Vergewaltigungen (+34) und der schweren Körperverletzung (+32) zurückzuführen. Um 329 Prozent stieg die Zahl von Fällen schweren Raubs: Wurden 2019 sieben Raubüberfälle zur Anzeige gebracht, waren es letztes Jahr 30.
Jugendkriminalität
Zugenommen hat auch die Anzahl der Delikte, die von unter 18-Jährigen ausgeführt wurden. Auffallend ist, dass Minderjährige immer mehr schwere Gewalt ausüben: Etwa bei den versuchten und vollendeten Tötungsdelikten verdreifachte sich die Zahl der Delikte mit Messern oder anderen Stichwaffen (36 Fälle). Auch bei schweren gewalttätigen Auseinandersetzungen werden laut der neuen Zahlen weniger die Fäuste, aber immer häufiger Schneid-, Stich oder Schlagwaffen verwendet. Jugendliche beteiligten sich laut der Kriminalstatistik auch häufiger an Angriffen auf andere Personen (468 Fälle, +75) oder verübten Raubüberfälle (648 Fälle, +213).
Nimmt die Gewaltbereitschaft zu?
Nein, die Gewalt hat über die Jahre nicht zugenommen, im Gegenteil, wir glauben, dass weniger Gewalt ausgeübt wird als früher. Auch auf der Strasse sehen wir diese positive Veränderungen. Die neue grosse Jugendbewegung, die Klima-Demos, sind explizit gewaltlos.
Aber die Zahl der schweren Gewalttaten sind die letzten fünf Jahre gestiegen.
Es ist wichtig zu sehen: Die Gewalttoleranz hat abgenommen. Es werden mehr Fälle angezeigt, die Gesellschaft ist sensibilisierter als noch vor 20, 30 Jahren. Aber ja: Es gibt das Phänomen, dass die Schwere der Gewalt zugenommen hat. Die Hemmschwelle zu einem Messer oder einer anderen Waffe zu greifen, scheint kleiner geworden zu sein.
Was könnten Gründe dafür sein?
Das ist sehr komplex. Gerade weil sich die Gesellschaft vermeintlich positiv weiterentwickelt, gibt es viele Verlierer. Die Einkommensschere geht auch bei uns auseinander, die Jobsituation für schulisch schwache Jugendliche ist schwierig. Es gibt viele gesellschaftliche Verlierer, oft bei weniger Bemittelten und bei Migrantenfamilien, die zu sechst in einer zwei-Zimmer-Wohnung hausen.
Und der Frust äussert sich in Gewalt?
Jugendliche funktionieren so, sie lechzen, bedingt durch ihre Identitätsfindung, nach Anerkennung. Wer diese nicht auf gute Art einholen kann und in der Familie vielleicht auch noch vorgelebt wurde, dass man auch mal Zuschlagen kann, bei dem kann man auch mal auf eine schiefe Bahn geraten. Krass zu sein oder andere zu unterdrücken kann für junge Männer eine Möglichkeit sein, Anerkennung zu erhalten. Sich getrauen, eine Waffe einzusetzen, kann diesen Reiz noch erhöhen.
Welche Rolle spielt das Männlichkeitsbild?
Es ist eine alte Weisheit: Je grösser die Krise, umso mehr greift man wieder auf tradierte Männlichkeit zurück. Unsere tief verankerten Rollenbilder verändern sich eben nicht so schnell wie man meinen könnte. Oft haben junge Männer verinnerlicht, dass sie keine Schwäche zeigen dürfen und nicht über ihre Gefühle reden sollen. Sie bleiben mit ihren Problemen und ihrem Frust alleine.
Wie helfen Sie den Tätern in der Beratung, dass sie nicht wieder zuschlagen?
Gerade junge Männer sind gut darin, sich selbst kennenzulernen. Dadurch können wir ihnen einen sogenannten “Notfallkoffer” auf den Weg geben. Sie lernen, wie sie aus Situationen wegkommen, die sie triggern und in denen sie früher vielleicht zugeschlagen hätten. Die Männer lernen eine Mischung zwischen Reflexion und pragmatischem Umgang mit schwierigen Situationen.
Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?
Hier findest du Hilfe:
Polizei nach Kanton
Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz
Online- und Einzelchatberatung für Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder
Lilli.ch, Onlineberatung für Jugendliche
Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein
Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer
LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
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