Wenn die Krankheit keinen Namen hat

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Somatoforme StörungWenn die Krankheit keinen Namen hat

Wer zum Arzt geht, bekommt eine Diagnose – normalerweise: Denn bis zu 20 Prozent aller Patienten begeben sich ohne Erklärung für ihr Leiden wieder auf den Heimweg.

Nackenschmerzen ohne Ursache? Viele Patienten durchlaufen eine medizinische Odysse. (Bild: Colourbox)

Nackenschmerzen ohne Ursache? Viele Patienten durchlaufen eine medizinische Odysse. (Bild: Colourbox)

Sie können sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise bemerkbar machen, so genannte «unklare Körperbeschwerden» (medizinisch: somatoforme Störungen). Sie äussern sich als Rücken-, Kopf-, Nacken- oder Gelenkschmerzen, Herzrasen, Schweissausbrüche, Schwindel oder Atemnot. Auch Magen-Darm-Beschwerden wie Blähungen, Durchfall, Verstopfung und Speiseunverträglichkeiten gehören dazu, genauso wie eine schmerzhafte Periode bei Frauen, Lähmungserscheinungen, Hautirritationen, Seh- und Hörprobleme.

«Diese Körpersymptome haben dann auch häufig Folgeerscheinungen wie sexuelle Gleichgültigkeit, Konzentrationsprobleme, Stimmungsschwankungen, Depressionen und Beeinträchtigungen im sozialen Leben», erklärt die Mainzer Psychologin Ann Christin Krämer. Dabei ist das Auftreten von körperlichen Missempfindungen nichts Ungewöhnliches. Wenn die Beschwerden jedoch zunehmend das Leben bestimmen, sollte eine Psychotherapie in Betracht gezogen werden.

Bestätigung vom Arzt, dass kein Befund vorliegt

In der Verhaltenstherapie sollen Strategien entwickelt werden, um mit den körperlichen Beschwerden besser zurechtzukommen und die Lebensqualität zu verbessern. Laut neuen wissenschaftlichen Untersuchungen hat insbesondere die verhaltenstherapeutische Behandlung medizinisch unklarer Beschwerden gute Erfolgsaussichten.

Voraussetzung für die Therapie ist eine Bestätigung vom Arzt, dass kein organischer Befund vorliegt. Wenn körperliche Beschwerden diagnostiziert wurden, dürfen diese nicht die Art und das Ausmass der Symptome, das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten erklären. «Die Beurteilung ist oftmals sehr schwierig, da müssen wir uns ganz auf den Arzt verlassen», sagt Krämer.

Auch andere psychische Erkrankungen spielen bei der Entscheidung für oder gegen eine Verhaltenstherapie eine Rolle. «Wenn jemand unklare Körperbeschwerden aufweist, jedoch beispielsweise eine schwere Depression im Vordergrund steht, wird dem Patienten die Behandlung der Depression empfohlen. Aber wenn die Körperbeschwerden im Vordergrund stehen, beispielsweise ein Patient klagt: 'Ich habe ein Reiz-Darm-Syndrom, vor allem in Stresssituationen, ich kann es kaum noch aushalten, dadurch nicht mehr schlafen', dann könnte er in unseren Behandlungsschwerpunkt passen», erklärt Krämer.

Sehr viele Sorgen um die Gesundheit

Patienten mit unklaren Körperbeschwerden bewerten ihre Symptome oft negativ verzerrt, machen sich sehr viele Sorgen um ihre Gesundheit und die möglichen Folgen der Beschwerden. «Das primäre Problem bei somatoformen Störungen besteht darin, dass die Betroffenen ihre Aufmerksamkeit sehr stark auf ihren Körper beziehungsweise körperliche Veränderungen und Empfindungen ausrichten», erklärt Krämers Kollegin Maria Kleinstäuber.

«Die Gedanken kreisen ständig um den eigenen Körper, so dass der Betroffene sich kaum auf andere Aspekte konzentrieren kann. Diese Aufmerksamkeitsfokussierung verstärkt wiederum die körperlichen Beschwerden.»

Die meisten Betroffenen entwickeln dann ein Schonungs- beziehungsweise Vermeidungsverhalten, um die Symptome zu reduzieren. «Einige Betroffene nehmen zum Beispiel nur noch bestimmte Körperhaltungen ein, in der Hoffnung, ihre Schmerzen zu lindern», berichtet Kleinstäuber. Viele vermeiden Sport und körperliche Aktivität und ziehen sich aus ihren sozialen Aktivitäten zurück.

Kurzzeittherapie in 25 Sitzungen

Die Kurzzeittherapie, die die Ambulanz für Psychotherapie anbietet, umfasst fünf Probe- und 20 Einzeltherapiesitzungen à 50 Minuten. «In den Probesitzungen lernt man sich besser kennen und baut eine therapeutische Beziehung auf», erklärt Krämer.

Ein wichtiger Teil dieser ersten Phase sei es, realistische Erwartungen aufzubauen und dabei immer wieder die Rolle des Patienten deutlich zu machen, der einen ganz aktiven Teil mittragen soll. Bisher haben 40 Patienten die Kurzzeittherapie zu medizinisch unklaren körperlichen Beschwerden in Mainz in Anspruch genommen, im Schnitt waren sie 40 Jahre alt, überwiegend waren es Frauen.

«Betroffene mit unklaren Körperbeschwerden ziehen sich oft zurück, weshalb wir in der Verhaltenstherapie versuchen, Aktivitäten zu finden, die ihnen früher Spass gemacht haben und überlegen gemeinsam, wie man sie wieder in den Alltag integrieren könnte», erklärt Krämer. Die Aktivitäten soll der Patient zwischen den einzelnen Therapiesitzungen austesten. Eine konkrete Aufgabe könne beispielsweise sein, jeden Tag eine halbe Stunde joggen zu gehen.

(dapd)

Somatoforme Störungen:

Somatoforme Störungen sind körperliche Beschwerden, die sich nicht auf eine ärztliche Diagnose zurückführen lassen oder deren Intensität durch einen Befund nicht ausreichend erklärt werden kann. Oft gibt es verschiedene biologische, seelische und soziale Ursachen. In Allgemeinarztpraxen werden 16 bis 31 Prozent der Besuche durch somatoforme Symptome verursacht. Der typische Beginn der Störung liegt einer 2007 veröffentlichten Untersuchung zufolge zwischen dem 16. und 30. Lebensjahr.

Somatoforme Störungen können sich ganz unterschiedlich äussern: Beschwerden im Bereich der Atmung (Gefühl der Atemhemmung, Halsenge, Luftnot) und Druck- und Beklemmungsgefühle in der Brust gehören genauso dazu wie Übelkeit, Völlegefühl, Bauchschmerzen und Stuhlunregelmässigkeiten. Auch Schmerzen im Unterbauch können bei Frauen auf eine somatoforme Störung hindeuten, ebenso wie häufiges und/oder schmerzhaftes Wasserlassen. Als somatoforme Schmerzstörung werden die Beschwerden bezeichnet, wenn anhaltende Schmerzen ohne erklärenden körperlichen Befund auftreten.

Patienten mit somatoformen Störungen leiden nicht selten auch unter anderen psychischen Krankheitsbildern, insbesondere depressiven Störungen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen. Sie gehen häufig zum Arzt, obwohl sie bereits die Information erhalten haben, dass ihre Symptome nicht ausreichend körperlich begründbar und damit meist nicht medizinisch behandelbar sind. Der Arzt wird also mit schwer leidenden Patienten konfrontiert, denen er nur bedingt helfen kann.

Eine Verhaltenstherapie kann sinnvoll sein, wenn der Patient bereit ist, aktiv mitzuarbeiten. Während der Therapie sollen die Patienten lernen, mit ihren Beschwerden zu leben und trotzdem einen befriedigenden und aktiven Alltag zu haben, indem sie ihre Beschwerden anders bewerten und gewichten - damit sie ihnen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht mehr im Weg stehen.

(AP)

Hilfe bei Somatoformen Störungen:

Ratsuchende finden weitere Informationen und Anlaufstellen bei der Schweizerischen Gesellschaft für Verhaltens- und Kognitive Therapie (SGVT).

Ratsuchende finden weitere Informationen und Anlaufstellen bei der Schweizerischen Gesellschaft für Verhaltens- und Kognitive Therapie (SGVT).

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