Zu viel SonnenschutzFührt Sonnencreme zu Vitamin-D-Mangel?
Wer sich täglich mit Sonnencreme einschmiert, riskiert einen Mangel an Vitamin D. Laut einer Studie haben 90 Prozent sogar Ende Sommer einen zu tiefen Pegel des Vitamins im Blut.
Noble Blässe oder gesunde Bräune? Bei diesem Thema gehen die Meinungen auseinander. Sogar Hautärzte sind sich nicht ganz einig: Denn aus Angst vor Falten und Hautkrebs wagen sich immer mehr Schweizer nur mit einer dicken Schicht Sonnenschutz an die Sonne – und riskieren so einen Mangel am lebenswichtigen Vitamin D, das eine wichtige Rolle in der Knochen- und Zahnbildung spielt.
So erlebte es die 18-jährige Tochter von Manuela (Name geändert) aus Baar: «Sie macht eine Lehre als Landschaftsgärtnerin und ist den ganzen Tag draussen – dennoch wurde bei ihr kürzlich aufgrund der ständigen Schlappheit und Müdigkeit ein Vitamin-D-Mangel diagnostiziert, was mich sehr erstaunt hat.»
Jeder Zweite hat einen Mangel an Vitamin D
Doch als sie der Ärztin erzählte, dass ihre Tochter sich jeden Morgen, bevor diese das Haus verlässt, mit Sonnenschutz einschmiert, war für die Ärztin der Fall klar. «Sie meinte, sich vor Sonnenbrand zu schützen, sei natürlich eine gute Sache – doch schon mit Faktor 20 bekommt die Haut konstant zu wenig Sonne ab», so Manuela. Sich nie ungeschützt der Sonne auszusetzen, sei laut Ärztin nicht empfehlenswert.
«Die konsequente Verwendung von Sonnencreme mit hohem Schutzfaktor beeinträchtigt die Bildung des Vitamins in der menschlichen Haut», sagt der Luzerner Arzt Christoph Merlo. Zusammen mit anderen Hausärzten aus dem Kanton Luzern hat er im Jahr 2011 bei insgesamt 776 Patienten den Vitamin-D-Spiegel gemessen. «Überraschenderweise fanden wir bei 90 Prozent einen Spiegel unterhalb des wünschbaren Bereichs sowie bei jedem zweiten Patienten einen Mangel – und das Ende Sommer, was wir so nicht erwarteten», so Merlo. Er vermutet ebenfalls, dass zu den Gründen unter anderem Sonnencreme sowie mangelnde Sonnenexposition allgemein gehören.
Sonnenschutz meist nicht so hoch wie gedacht
Eine andere Studie hingegen, die spezifisch den Zusammenhang zwischen Sonnencreme und Vitamin-D-Mangel untersucht hat, entkräftet den Verdacht: «Meine Londoner Kollegen vom King's College konnten zeigen, dass Sonnenschutzmittel keinen grossen Einfluss auf den Spiegel an Vitamin D im Blut haben», sagt Günther Hofbauer, Leitender Arzt der Dermatologischen Klinik am Unispital Zürich.
Denn: «Die meisten Menschen tragen einerseits viel zu wenig Creme auf – empfohlen sind zwei Millgramm pro Quadratzentimeter, was eine beträchtliche Menge ist – und reduzieren so den Schutzfaktor 50, der auf der Tube angegeben ist, um ein Vielfaches. Andererseits verwenden auch Risikopatienten, die etwa bereits Hautkrebs hatten, nur an 3,5 Tagen einen Sonnenschutz – obwohl sie sich eigentlich laut Arzt an sieben Tagen die Woche eincremen müssten.» Dieses Verhalten führe dazu, dass die meisten Menschen weniger gut und konsequent vor der Sonne geschützt sind als sie glauben.
Tropfen statt Sonne?
Auch Stephan Lautenschlager, Chefarzt des Dermatologischen Ambulatoriums des Stadtspitals Triemli Zürich, sieht keinen Zusammenhang: «Immer wieder werden Sonnencremes für die tiefen Vitamin-D-Spiegel verantwortlich gemacht. Dem widerspricht, dass insbesondere die Dunkelhäutigen in sonnenexponierten Ländern betroffen sind, die nie Sonnenschutzcreme verwenden – so wie etwa auf Hawaii, wo die Hälfte der Erwachsenen mit mindestens drei Stunden täglicher Sonnenexposition während fünf Tagen pro Woche ebenfalls einen Mangel aufwiesen.»
Der Hausarzt Christoph Merlo sieht die Sachlage so: «90 Prozent des Vitamin D im menschlichen Körper wird unter dem Einfluss des Sonnenlichts in der Haut gebildet.» Hofbauer betont jedoch, die Haut sei eine «vergleichbar schlechte Vitamin-D-Fabrik»: «Viel besser, als sich nun ohne Sonnenschutz in die Sonne zu begeben, sind Tropfen, die einen auf einfache und günstige Art mit genügend Vitamin D versorgen.» Dieselbe Empfehlung gibt auch Lautenschlager.