Angst vor BakterienMit Ekel durchs verkeimte Leben
Furcht und der Griff zum Desinfektionsspray bestimmen das Leben von Mikrobenphobikern. Das Absurde daran: Ohne viele der Billionen von Bakterien auf und in uns könnten wir nicht überleben.

Michael Jackson: Wenige Jahre vor seinem Tod zeigte er sich nur noch selten ohne Maske in der Öffentlichkeit.(Bild: Keystone)
Noch nie wurde in der Schweiz so stark auf Hygiene geachtet wie im vergangenen Jahr - der Grund lag buchstäblich auf der Hand: das Schweinegrippe-Virus. Die damals noch wenig kalkulierbare, vermeintliche Gefahr des A/H1N1-Virus verbreitete Angst und Schrecken, und so propagierte das Bundesamt für Gesundheit das Händewaschen landauf, landab als wichtigste Massnahme zum Schutz vor dem hoch ansteckenden Erreger. Besonders die Chemiemultis frohlockten: Führte der Hygienetrend doch zu einem explosionsartigen Absatz von Desinfektionsmitteln jeglicher Couleur.
Bakterien: Vor ihnen gibt es kein Entkommen
Was den einen zu vorübergehender Vorsicht bewog, gehört für den anderen auch ohne Schweinegrippe zum zwanghaften Alltag. Etwa zwei Prozent der Bevölkerung - so schätzen Experten - leiden unter einer Verkeimungsphobie. Sie fürchten sich vor winzigen Mikroorganismen. Die Angst vor Mikroben und Viren ist eine der bekanntesten einer Vielzahl von beschriebenen Zwangsstörungen - auch Michael Jackson litt darunter: Er bewegte sich zeitweise nur mit Mundschutz und Handschuhen in der Öffentlichkeit. Das Berühren von Türklingen, Haltestangen im Tram oder anderen öffentlich zugänglichen Gegenständen löst bei solchen Phobikern Ekel und Furcht aus. Der vermeitlich drohenden Gefahr einer Erkrankung stellen sie deshalb ein Arsenal unterschiedlichster Bakterienkiller gegenüber: Die Phobiker besprühen sich und Gegenstände der näheren Umgebung mit Desinfektionsmitteln, werden zum Putzteufel oder schrubben sich Hände oder sogar den ganzen Körper mehrfach täglich mit antibakteriellen Waschlösungen wund. Der Hygiene-, Putz- und Waschwahn treibt Familie und Freunde an den Rand des Wahnsinns und den Betroffenen nicht selten in die Isolation.
Für die Entwicklung einer Verkeimungsphobie kommen unterschiedliche Ursachen infrage. «Das können beispielsweise verunsichernde Trennungserlebnisse in der Kindheit, Lernen am Modell der Eltern oder die Erziehung zu besonderer Reinlichkeit sein», weiss Michael Rufer, stellvertretender Klinikdirektor der psychiatrischen Poliklinik des Universitätsspitals Zürich. Spätere belastende Ereignisse und die Art der Reaktion der Betroffenen und ihrer Umgebung auf die Ängste während der Kindheit können dem Experten nach in diesem Prozess eine ebenso wichtige Rolle spielen wie genetische und neurobiologische Faktoren.
Therapie hilft dem Zwang zu begegnen
Eine krankhafte Angst vor Verkeimung tritt nur selten als isoliertes Symptom auf, wie Rufer ausführt: «Wenn die Ängste besonders stark sind und länger bestehen bleiben, kommen sehr oft Wasch- oder Reinigungszwänge hinzu.» Ein Teufelskreis, aus dem der Phobiker ohne Hilfe praktisch nicht entkommen kann. Hier setzt die kognitive Verhaltenstherapie an: Der Psychiater/Psychologe erörtert gemeinsam mit dem Patienten die persönlichen Ursachen der Störung. Schrittweise wird der Betroffene mit seinen Befürchtungen konfrontiert und lernt so, mit den auftretenden Ängsten und Ekelgefühlen umzugehen, um so auf seine ursprüngliche Befürchtung konstruktiv einwirken zu können. Die Erfolgsquote für das Lernen, das Problem auf diese Weise langfristig in den Griff zu bekommen, liegt laut Michael Rufer bei 70 bis 80 Prozent.
Gut verdaut, Mikrobe sei Dank!
Wie absurd die Furcht vor Bakterien und Pilzen eigentlich ist, macht der Biologe und «Spiegel»-Autor Jörg Blech auf unterhaltsame Art und Weise in seinem Buch «Leben auf dem Menschen» bewusst. Blech zufolge leben die meisten der rund hundert Billionen Bakterien, Pilze und anderen Mikroben in friedlicher Koexistenz mit den zehn Billionen menschlichen Zellen zusammen, aus denen unser Körper besteht. Doch nicht nur das: Ohne sie wären wir langfristig nicht lebensfähig. Bereits kurze Zeit nach unserer Geburt besiedeln sie unter anderem unseren Darm, regeln die Verdauung und werden so zu einem wichtigen Bestandteil unseres Immunsystems.
Während übertriebene Hygiene mehr schadet als nützt, ist ein gesundes Reinlichkeitsverständnis im Alltag durchaus sinnvoll. Das gilt insbesondere für Menschen mit geschwächtem Immunsystem: «Personen, die aufgrund einer Chemo- oder einer anderen Immuntherapie ein beeinträchtigtes Immunsystem aufweisen, sollten etwas vorsichtiger sein. Grundsätzlich ist regelmässiges Händewaschen mit Seife, besonders vor dem Essen, sehr zu empfehlen», rät Christian Ruef, Leiter Spitalhygiene des Universitätsspitals Zürich.
Dass das Immunsystem nur gestärkt werden kann, indem man sich Viren und Bakterien regelrecht aussetzt, ist für ihn nichts als ein in der Bevölkerung weit verbreiteter Irrtum. Seiner Meinung nach «handelt es sich dabei um eine Mär, denn wir kommen ohnehin ständig mit unterschiedlichsten Erregern in Kontakt, auf die unser Immunsystem ohnehin andauernd reagiert. Ob wir uns dieser Vielzahl von Bakterien mehr oder weniger aussetzen, spielt also überhaupt keine Rolle.»
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«Leben auf dem Menschen - Die Geschichte unserer Besiedler» von Jörg Blech, erschienen im Rohwolt-Verlag.