50 Jahre Reformkonzil«Ein ungeheurer Aufbruch der Kirche!»
Messe in Landessprachen, Versöhnung mit Juden, Kirche fürs Volk: Das vor 50 Jahren eröffnete 2. Konzil war bahnbrechend. Für Kirchenexperte Victor Conzemius übertrieben aber einige Reformer .
20 Minuten Online: 1962 waren Sie 33-jährig und seit sieben Jahren Priester. Was bedeutete das Zweite Vatikanische Konzil, das damals eröffnet wurde (siehe Box), für Sie als jungen Kleriker?
Victor Conzemius: Ich habe nicht allzu viel davon erwartet. Viele gingen davon aus, dass alles beim Alten bleiben würde.
Doch als das Konzil nach drei Jahren zu Ende ging, mussten Sie Ihre ursprüngliche Meinung revidieren?
Ja, das Konzil hat die Kirche von Grund auf verändert. Sie wurde zu einer echten Weltkirche, in der nicht mehr der Katholik als solcher im Zentrum steht, sondern das Heil und Glück aller Menschen.
Demnach wurden die unmittelbaren Ergebnisse des Konzils dem Anspruch von Papst Johannes XXIII. gerecht? Er hatte in seiner Eröffnungsrede den «Sprung nach vorne», eine Öffnung und Erneuerung der Kirche angekündigt.
Ja, es gab eine vertiefte Hinwendung zur Welt. Johannes XXIII. hatte Recht, als er sagte: «Das Evangelium hat sich nicht verändert, wir beginnen aber, es besser zu verstehen.»
Zeitzeugen berichten, es habe eine regelrechte Aufbruchstimmung in der Kirche geherrscht.
So habe ich es auch empfunden, das Konzil hat auf meine Generation sehr positiv gewirkt. Die Kirche kam weg von der absoluten Fixierung auf den Papst. Die nach aussen augenfälligste Veränderung betraf sein Auftreten: Johannes hat die protzige Papstkrone ins Museum verbannt. Er war auch der erste Papst, der aus den Verliessen des Vatikans ausgebrochen ist und zumindest Italien bereist hat. Ein ungeheurer Aufbruch!
Welches waren die sonstigen Errungenschaften, hinter die die Kirche nie mehr zurückgehen konnte?
Es gab Änderungen in der Liturgie: Die Messe wird seither in der Muttersprache gefeiert, das Lateinische wurde zurückgedrängt. Die Beziehungen zu den anderen christlichen Konfessionen, zum Judentum und zum Islam wurden dadurch verbessert, dass Rom begann, den Dialog zu institutionalisieren. Wichtig war auch, dass die Stimmen der Laien gehört wurden: Nach dem Konzil waren sie endlich als volle Glieder des Volkes Gottes anerkannt. Vergangenheit war damit das spöttische Diktum aus dem 19. Jahrhundert, dass die Gemeinde nur dazu da sei, die Predigt anzuhören und den Geldbeutel zu öffnen.
Bereits 1968 kam aus Sicht reformorientierter Katholiken ein herber Rückschlag – mit der «Pillen-Enzyklika» Humanae vitae, in der sich Paul VI. gegen die künstliche Empfängnisverhütung aussprach.
Der Rückschlag war nicht so herb, auch wenn man es vielleicht so empfunden hat. Die Enzyklika ist eigentlich ein schönes und verständnisvolles Werk, nur hat sich die Diskussion auf die Passagen zur Empfängnisverhütung konzentriert. Dazu gilt es zu sagen: Jeder Katholik hat ein eigenes Gewissen, nach dem er handeln soll.
Tiefgläubige Katholiken in Afrika halten sich aber an die Vorgaben des Papstes. Wenn die Kirche das Kondom verteufelt, nimmt sie die Ansteckung von Millionen Menschen mit Geschlechtskrankheiten und Aids in Kauf.
Das ist eine reisserische Behauptung, die Journalisten immer wieder gerne bringen. Als ob der Papst die Ansteckung mit Aids fördern wollte! Die Kirche muss sich aber an einem Ideal orientieren. Und die eheliche Treue wäre immer noch das beste Mittel gegen solche Krankheiten. Es wäre wohl zu viel verlangt von katholischen Nonnen, wenn sie hauptamtlich in Afrika Kondome verteilen müssten.
Zurück in die Zeit nach dem Konzil. In der Schweiz wollte die Synode 72 – eine Art Kirchenparlament – die Konzilsbeschlüsse umsetzen, blieb aber auf halbem Weg stecken: Warum?
Es war wohl zu spät für den Aufbruch, sieben Jahre nach dem Konzil war dessen unmittelbarer Effekt verflogen. Die deutsche Synode fand bereits im Jahr 1968 statt, zu einem günstigeren Zeitpunkt. Die Beschlüsse der Schweizer Synode wurden in Rom grösstenteils auf die lange Bank geschoben. Aber dennoch ermöglichten es die speziellen Kirchenverhältnisse hierzulande, einige Reformen umzusetzen, die es in anderen Ländern nicht gab. So können zum Beispiel Laien als Gemeindeleiter fungieren. Und Priester, die mit dem Zölibat nicht zurechtkommen und heiraten, können danach ebenfalls wichtige Funktionen in der Gemeinde übernehmen.
Wie konnten sich die Schweizer Katholiken ihren vergleichsweise progressiven Status erkämpfen?
Mir behagt das Wort progressiv in diesem Zusammenhang nicht. Ich halte mich da an die Philosophin Hannah Arendt, die sagte: «Wer an den Fortschritt glaubt, der verletzt die Menschenwürde.» Progressivität pur ist mir verdächtig.
Gut, dann anders formuliert: Wieso sind die Schweizer Rom-ferner als andere Landeskirchen?
Die Deutschschweizer Katholiken sind teilweise seit langem darum bemüht, Distanz zum Vatikan zu wahren. Schon im 18. Jahrhundert gab es in der katholischen Schweiz einzelne Staatsdenker, die eine Unterordnung der Kirche unter den Staat vertraten. Die Schweiz tickt eben generell anders: Weil hier der einzelne Bürger in der Politik viel zu sagen hat, wollen auch viele Katholiken mehr Demokratie in der Kirche. Doch das hat seine Grenzen: Die Kirche hat nun mal ein bestimmte Verfassung. In diesem Rahmen ist die Demokratie nicht gleich zu verwirklichen wie in der staatlichen Ordnung. So spreche ich mich etwa gegen eine Wahl des Bischofs durch das Kirchenvolk aus, weil das nur Unruhe bringt.
Der Schweizer Theologe Hans Küng spricht von einem «Verrat am Konzil», weil viele damals nicht aufgestellte Forderungen nie umgesetzt wurden.
Die Pius-Brüder sprechen ja umgekehrt vom «Verrat des Konzils». Verrat ist ein zu hartes Wort, denn der Geist des Konzils lebt weiter. Wenn man sieht, wie abgeschottet sich die Kirche vor dem Konzil gab, wie sie vorher absolut postulierte: «Ohne die Kirche kein Heil!» – dann erkennt man, wie viel sich verändert hat. Aber es gab damals auch Forderungen, die nicht zu realisieren waren. Und für Leute wie Küng ging und geht es mit den Reformen nicht schnell genug voran. Dabei vergessen sie: Für eine Weltkirche ist es nicht so leicht, in all den verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten in den einzelnen Ländern die Verhältnisse zu ändern.
Inwiefern lässt sich die Entwicklung der katholischen Kirche an der Biographie von Josef Ratzinger alias Benedikt XVI. ablesen, der sich vom progressiven Teilnehmer des Konzils zum Konservativen wandelte?
Es heisst ja, Ratzinger sei durch die Studentenproteste in Tübingen 1968 eingeschüchtert worden und habe sich dadurch gewandelt. Ich glaube eher, er hatte schon vorher die Anlagen, die ihn nun als Papst prägen: Das Neuplatonische, also die Ausrichtung an Idealen und weniger am Pragmatischen. Zu seinem Gesinnungswandel nach dem Konzil mag aber beigetragen haben, dass einige Reformer mit ihren Forderungen übertrieben und selber schliesslich mit der Kirche brachen.
Benedikt lässt nun sogar die lateinische Messe wieder zu. Das ist ein deutliches Zeichen, dass Rom keine Volkskirche will, in der Laien eine wichtige Rolle spielen – ein Schritt zurück in die Zeit vor dem Konzil.
Nein, ich sehe in der Wiederzulassung der lateinischen Messe keinen beängstigenden Vorgang. Es ist keineswegs so, dass die Messe nun zwingend wieder in Latein gefeiert wird. Aber wer sich zur lateinischen Messe hingezogen fühlt, soll dazu die Möglichkeit haben. Gerade Intellektuelle wurden durch den bisweilen plumpen Umgang mit der deutschen Sprache verletzt. Wenn der Priester bisweilen sagt: «Grüezi, schön, dass ihr alle da seid», dann ist das eine Anbiederung, die manchem nicht gefällt.
Mit der lateinischen Messe sucht Benedikt aber die Annäherung an die erzkonservative Pius-Bruderschaft, die sich wegen des Konzils von der Kirche abgespalten hat.
Da lässt sich Benedikt von irrealen Vorstellungen leiten: Er glaubt, es gebe noch eine gemeinsame Basis mit den Pius-Brüdern. Doch dem ist nicht so: Sie sind verhaftet in einer Welt, wie sie vor Jahrhunderten existierte, und nehmen die Säkularisierung nicht ernst.
Diese Säkularisierung setzt aber der katholischen Kirche stark zu – zumindest in Westeuropa. Kann sie das Dahinschmelzen Ihrer Herde überhaupt noch aufhalten?
Ich sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass die gesellschaftlichen Trends sich radikal umkehren würden. Den Protestanten ergehts ja nicht anders. Die Zuwanderung aus dem islamischen Raum stärkt aber auch indirekt den Christen den Rücken, indem sie sich auch auf die eigene Identität besinnen. Die Kirche kann sich so immerhin bemühen, ihren «harten Kern» zu festigen.
Dabei könnten allenfalls grundlegende Reformen helfen. Werden wir in diesem Jahrhundert noch die Weihung von Frauen zu Priesterinnen erleben?
Vielleicht wird es gegen Ende des Jahrhunderts möglich sein. Ich weiss aber nicht, ob das an sich erstrebenswert ist. Das Priesteramt kann auch einen Verschleiss bringen. Eine Mutter, die ihre Kinder zum Glauben erzieht, macht etwas viel Wichtigeres als ein Priester – dessen Rolle sowieso überbewertet wird. Was ich sehr begrüssen würde, wäre die Weihung von Frauen zu Diakoninnen, so wie auch verheiratete Männer derzeit schon Diakone werden können.
Und was ist mit einer Abschaffung des Zölibats?
Es wird immer Leute geben, die die Ehelosigkeit wählen, weil sie sich nicht zu einer Ehe berufen oder fähig fühlen – etwa weil sie homosexuelle Tendenzen haben. Andere wollen als Ehelose ganz für die Gemeinde da sein, für die Armen.
Sie weichen aus: Soll der Zwang zum Zölibat abgeschafft werden?
Zwang gibt es auch heute nicht. Es wird niemand zum Zölibat gezwungen, er ist einfach Voraussetzung für die Priesterweihung. Es gibt katholische Teilkirchen, in denen die Priesterheirat seit Jahrhunderten Tradition ist. Ich würde mir wünschen, dass auch bei uns verheiratete Laien und Familienväter zu Priestern geweiht werden und damit ihren Einsatz für Gemeinde und Menschen leisten können.
Das Zweite Vatikanische Konzil
An diesem 11. Oktober jährt sich die Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils zum 50. Mal. Vom Herbst 1962 an trafen sich mehr als 3000 Teilnehmer in vier Sitzungsperioden bis im Dezember 1965 und reformierten die katholische Kirche von Grund auf. Unter dem Vorsitz der beiden Päpste Johannes XXIII. (verstorben 1963) und Paul VI. wurde eine Modernisierung der Institution vorangetrieben: Der Vatikan sprach sich für den Dialog mit anderen Konfessionen und Religionen aus, schwor dem Antijudaismus ab, akzeptierte die Religionsfreiheit, gestaltete die Messe neu und stärkte die Position der Laien. Das Konzil nährte die Hoffnung progressiver Katholiken, dass auch weitergehende Reformen möglich sein würden. Weil sich diese Hoffnungen nicht bewahrheiteten, sprechen Reformtheologen wie Hans Küng von einem «Verrat am Konzil». (hhs)

Zur Person
Victor Conzemius (83) stammt aus Luxemburg. Dort studierte er am Priesterseminar Philosophie und Theologie, bevor er nach Fribourg zog. Dort erhielt er die Doktorwürde in Philosophie und wurde 1955 zum Priester geweiht. Von 1970 bis 1980 war er Professor für Kirchengeschichte in Luzern. Er gilt als Experte für das Erste und das Zweite Vatikanische Konzil.