Zum Kino-StartDas harte Los der Verdingkinder
Noch leben in der Schweiz tausende Menschen, die in ihrer Kindheit Opfer einer hartherzigen «Fürsorge» wurden. Der Film «Verdingbub» bringt jetzt neues Licht in dieses dunkle Kapitel.
Trailer: «Der Verdingbub»
Viele von ihnen wurden jeden Tag gedemütigt und beschimpft, manche wurden auch regelmässig geschlagen. Einige brachten sich um. Ausgebeutet wurden sie alle: die Verdingkinder.
Heute noch leben tausende von ihnen in der Schweiz. Sie alle haben am eigenen Leib erfahren müssen, was Schweizer Behörden viel zu lange unter «Fürsorge» verstanden. Vereinzelte Unglückliche ereilte dieses bittere Schicksal noch in den 70er-Jahren, wie der Historiker Thomas Huonker betont, der sich eingehend mit diesem unrühmlichen Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte befasst hat. Nicht weniger als 100 000 Kinder wurden seiner Schätzung zufolge allein im 20. Jahrhundert verdingt.
«100 000 wahre Geschichten»
Am 3. November 2011 gelangt ein Film in die Kinos (siehe Infobox), der dieses dunkle Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte ausleuchtet. Es ist der erste Spielfilm, der die Lebensgeschichte eines Verdingkinds erzählt, und er nimmt Partei gegen «die Ungerechtigkeit» und «die Viehhaltung von Menschen». Protagonist ist der Waisenjunge Max, der vom Waisenhaus in eine Bauernfamilie kommt, wo es ihm schlecht ergeht. Sein Schicksal steht exemplarisch für das harte Los aller Verdingkinder – der Film von Regisseur Markus Imboden basiert «auf 100 000 wahren Geschichten», wie es auf der Film-Website heisst.
Die Praxis, Waisenkinder, Scheidungskinder oder solche, deren Eltern nicht für ihren Unterhalt aufkommen konnten, in einer fremden Familie zu platzieren, geht in der Schweiz bis ins Mittelalter zurück, schreibt Huonker. Bis vor hundert Jahren gab es sogar so genannte Verdingmärkte, auf denen die Kinder – beinahe wie auf einem Sklavenmarkt – versteigert wurden. Dabei bekamen jene Interessenten den Zuspruch, die von der Behörde am wenigsten Kostgeld für das aufzunehmende Kind verlangten. Jeremias Gotthelf hat eine solche Szene in seinem «Bauernspiegel» (1837) eingehend beschrieben.
Wie Leibeigene behandelt
Dieses Kostgeld, das die Behörde der Pflegefamilie ausrichtete, verringerte sich in dem Masse, wie die Kinder älter wurden – schliesslich stieg ihre Arbeitsleistung mit zunehmendem Alter. Allerdings mussten bei gewissen Arbeiten schon Drei- oder Vierjährige mit anpacken. Viele Landwirte – die meisten Verdingkinder kamen auf Bauernhöfe – behandelten die Kinder wie Leibeigene; in ihren Augen war es legitim, die Arbeitskraft der Kinder als Gegenleistung für Unterkunft, Essen und Kleider bis zum Letzten auszuschöpfen. Es waren in der Regel auch eher die weniger wohlhabenden Bauern, die Verdingkinder aufnahmen.
Kritik an den Misshandlungen und der Ausbeutung gab es durchaus, wie Historiker Huonker feststellt. Doch sie bewirkte wenig. Letztlich, so Huonker, war es die Mechanisierung der Landwirtschaft, die dem Verdingwesen die Grundlage entzog. Erst als die Bauernhöfe immer weniger Arbeitskräfte benötigten, nahm die Nachfrage nach der billigen Kinderarbeit ab. In der Schweiz setzte dieser Prozess jedoch erst relativ spät ein, denn hier dominierten landwirtschaftliche Kleinbetriebe, für die sich Maschinen lange nicht lohnten. Und es waren gerade diese kleinen Höfe, auf denen die meisten Verdingkinder lebten.
Unterernährt und traumatisiert
Auch nachdem die Verdingkinder in den 60er-Jahren aus der sozialen Landschaft der Schweiz verschwanden, dauerte es noch lange, bis sich das Bewusstsein für das an ihnen begangene Unrecht zu schärfen begann. Vor allem der «Beobachter» hat das Thema immer wieder an die Öffentlichkeit gebracht und sich für die Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen eingesetzt. Verdingkinder wurden nämlich nicht nur durch die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, die der Zwangsarbeit gleichkamen, benachteiligt: Manche wurden auch körperlich geschädigt, zum Beispiel durch Mangelernährung, andere wurden traumatisiert. Es kam auch vor, dass der Vormund das Sparbüchlein eines Mündels plünderte. Ihre Chancen auf eine gute Ausbildung waren zudem sehr gering, weil sie aufgrund der vielen und harten Arbeit in der Schule müde waren und auch keine Zeit für Hausaufgaben hatten.
So wurden denn aus vielen Verdingkindern Knechte und Mägde – obwohl es auch nicht wenige gab, die der Gesellschaft erst recht beweisen wollten, dass sie eben mehr taugten, als man ihnen weisgemacht hatte. «Viele Verdingkinder haben Karriere gemacht, wenn sie einmal aus dieser Mühle herauskamen», sagt Huonker. «Andere aber gingen zugrunde.»
Ausstellung
Im Zentrum der Wanderausstellung «Verdingkinder reden» stehen Hördokumente von Betroffenen, ausgewählt aus Interviews, die im Rahmen zweier verschiedener Forschungsprojekte über die Fremdplatzierung von Kindern und das Verdingkinderwesen in der Romandie und in der Deutschschweiz geführt wurden. Ehemalige Verdingkinder und Heimkinder berichten über ihr Leben, ihre Erinnerungen und den Umgang mit ihren Erfahrungen.
Ausstellung im Schulhaus Kern
8. November 2011 bis 1. April 2012
Kernstrasse 45
8004 Zürich
Öffnungszeiten:
Di-So 11-18 Uhr
Für angemeldete Schulklassen:
Mo 8:30-18:30 Uhr
Di-Fr 8:30-12:00 Uhr
Das Schicksal der Jenischen
Besonders betroffen von den behördlichen Massnahmen zur Fremdplatzierung von Kindern war die Minderheit der Jenischen. Deren Familien wurden durch die Wegnahme der Kinder systematisch zerstört.
Traurige Berühmtheit erlangte dabei das 1926 gegründete «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das vom Bund von 1930 bis 1967 subventioniert wurde. Diese Abteilung der Pro Juventute nahm bis 1972 im Zuge der Bekämpfung des «Vagantenübels» mehr als 600 Kinder ihren fahrenden Eltern weg.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fanden sogar Zwangssterilisierungen und -Kastrationen statt, die «unwertes» oder «minderwertiges» Leben an der Fortpflanzung hindern sollten.

Der Verdingbub
CH 2011
110 Minuten
Regie: Markus Imboden
Mit Katja Riemann, Stefan Kurt, Max Hubacher, Max Simonischek, Miriam Stein, Lisa Brand u. a.
Ab 3. November 2011 im Kino