Als die Armee aufs Volk schoss

Aktualisiert

Genfer Unruhen von 1932Als die Armee aufs Volk schoss

Am 9. November 1932 töteten Rekruten der Schweizer Armee in Genf 13 demonstrierende Arbeiter. In der Folge verschärfte sich der Links-rechts-Gegensatz erheblich.

Rolf Maag
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Rolf Maag

Zu Beginn der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts waren die politischen Extreme in vielen Ländern Europas auf dem Vormarsch. Italien wurde seit 1922 von Benito Mussolinis Faschisten beherrscht, und in Deutschland hatte sich die NSDAP unter Adolf Hitlers Führung zur stärksten Partei gemausert. Andererseits herrschten seit 1917 in Russland die Bolschewisten, die ihr revolutionäres Gesellschaftsmodell zu exportieren trachteten.

Auch an der Schweiz gingen diese Entwicklungen nicht spurlos vorüber. Besonders in Genf war die Lage angespannt: Die Sozialdemokraten (SPS) strebten dort unter der Führung des charismatischen Léon Nicole nicht nur eine «Einheitsfront» mit den Kommunisten (KPS) an, sondern sie bekämpften auch vehement die faschistische «Union Nationale» von Georges Oltramare, einem antisemitischen Schriftsteller und Journalisten.

Eine Demonstration eskaliert

Auf den 9. November 1932 berief Oltramare eine Versammlung ein, bei der Nicole öffentlich angeklagt werden sollte. Die Genfer Sozialdemokraten waren nicht bereit, sich das bieten zu lassen und forderten alle Arbeiter, auch die kommunistischen, zu einer Gegenkundgebung auf. Der Genfer Staatsrat geriet in Panik und ersuchte den Bundesrat um militärische Hilfe, die dieser auch gewährte: Eine Kompanie Rekruten wurde von Lausanne nach Genf beordert.

Als die Genfer Polizei am Abend des 9. Novembers mit den von Nicoles Reden aufgepeitschten Demonstranten nicht mehr zurechtkam, forderte sie die Truppe an. Die unerfahrenen Soldaten (sie befanden sich erst in der sechsten Ausbildungswoche) konnten die Lage allerdings auch nicht beruhigen. Mit der Zeit sahen sich die verantwortlichen Offiziere so sehr in die Ecke gedrängt, dass sie den Feuerbefehl erteilten. 13 Menschen starben, 65 wurden verletzt.

Die Linke zürnt

Schuld am Blutvergiessen war nach Meinung der Genfer Behörden vor allem Léon Nicole; der Arbeiterführer wurde kurz nach den Unruhen verhaftet. Sogleich wurden nationale Sammlungen für seine Prozesskosten, aber auch für die überlebenden Opfer der Unruhen organisiert.

Nicole wurde im Mai 1933 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die Verfahren gegen die Offiziere und Soldaten endeten jedoch mit Freisprüchen, da sie in Notwehr gehandelt hätten. Die Sozialdemokraten schäumten verständlicherweise vor Wut; in der Broschüre «Die Blutnacht von Genf» forderten sie die totale Abrüstung, da die Armee ein bürgerliches Instrument im Klassenkampf sei und nur gegen die Linke, aber nicht gegen die Faschisten eingesetzt werde. In den folgenden Jahren verschärfte sich zunächst der Ton in den Auseinandersetzungen mit dem Bürgerblock erheblich. 1935 gewannen jedoch die gemässigten Kräfte innerhalb der Partei die Oberhand und konnten ein neues Programm durchsetzen, das der Diktatur des Proletariats eine Absage erteilte und die Landesverteidigung befürwortete. Am 15. Dezember 1943 wurde schliesslich Ernst Nobs als erster Sozialdemokrat überhaupt in den Bundesrat gewählt.

Ein Schweizer Nazi

Georges Oltramare, gegen den keine Anklage erhoben worden war, betätigte sich im Zweiten Weltkrieg als Kollaborateur: Von 1940 bis 1944 arbeitete er in Paris für von den deutschen Besatzern kontrollierte Medien. Nach dem Krieg wurde er daher vom Bundesgericht für Vergehen gegen die Unabhängigkeit der Schweiz zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein französisches Gericht sprach 1950 in Abwesenheit sogar ein Todesurteil gegen ihn aus. Bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1960 hatte er ein Publikationsverbot.

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