Erst missbraucht, dann kastriert

Aktualisiert

Katholische PsychiatrieErst missbraucht, dann kastriert

Henk Heithuis wurde jahrelang von Priestern missbraucht. Als er sich wehrte, wurde er kastriert. Über 50 Jahre später holt die Vergangenheit die katholische Kirche in den Niederlanden ein.

Daniel Huber
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Daniel Huber
Die Kinder der Familie Heithuis 1939 mit Henk (2.v.l.)(Bild: PD)

Die Kinder der Familie Heithuis 1939 mit Henk (2.v.l.)(Bild: PD)

Kaum jemand kannte Henk Heithuis, als er am 28. Oktober 1958 erst 23-jährig bei einem Autounfall ums Leben kam. Heute, über 50 Jahre nach seinem frühen Tod, wird das traurige Schicksal des Niederländers in der internationalen Presse – vom «Spiegel» über die FAZ bis zum «Telegraph» – ausgiebig beleuchtet.

Das Interesse der Medien hat einen Grund: Der Name des jungen Mannes steht im Zentrum eines Skandals, der die römisch-katholische Kirche in den Niederlanden in Verlegenheit bringt und mittlerweile auch die Politik beschäftigt. Denn Heithuis, der nahezu sein gesamtes Leben in katholischen Heimen und Internaten verbrachte, wurde dort nicht nur sexuell missbraucht – die Kirche veranlasste auch seine Kastration; angeblich, um seine Homosexualität zu heilen.

Aus dem Beichtstuhl zum Chirurgen

Schlimmer noch: Der unglückliche Heithuis war womöglich nur eines von mehreren Kastrationsopfern. Das vermutet zumindest der Journalist Joep Dohmen, der Mitte März mit seinem Artikel in der niederländischen Zeitung «NRC Handelsblad» die Sache ins Rollen brachte. Dohmen fand Hinweise auf insgesamt zehn weitere Fälle, konnte dazu aber keine offiziellen Dokumente vorlegen. Es habe wohl viel mehr solche Fälle gegeben, sagte Dohmen dem Sender «Omroep Brabant», doch es sei sehr fraglich, ob diese Opfer – inzwischen allesamt alte Männer – sich jetzt noch melden würden.

Dass sich hier nur die Spitze eines Eisbergs abzeichnet, dafür sprechen auch die Aussagen von zwei Chirurgen, die von dem Professor für Medizingeschichte Mart van Lieburg befragt wurden. Van Lieburg erklärte im April vor der Zweiten Kammer des niederländischen Parlaments, die Chirurgen seien in den 50er- und 60er-Jahren von einem katholischen Bischof dazu gedrängt worden, homosexuelle Jugendliche und Männer zu kastrieren. Zudem sollen Priester homosexuelle Jugendliche sozusagen direkt aus dem Beichtstuhl zum Chirurgen geschickt haben.

Dubiose Lücken im Schlussbericht

Politische Brisanz gewinnt der Fall Heithuis überdies, weil er ein schiefes Licht auf die Kommission Deetman wirft, die im Auftrag der katholischen Kirche zehntausende von Missbrauchsfällen von 1945 bis 2010 untersucht hatte. Obwohl die Kommission schriftlich auf den Fall Heithuis hingewiesen wurde, wird er im Schlussbericht vom Dezember 2011 nicht erwähnt. Ebensowenig wird im Schlussbericht der Deetman-Kommission Licht auf die möglicherweise dubiose Rolle von Victor Marijnen geworfen. Der Politiker der damaligen Katholischen Volkspartei (KVP) und spätere Premierminister sass bis 1959 im Verwaltungsrat des Internats, in dem Heithuis und Dutzende andere Schüler missbraucht wurden. Gemäss Journalist Dohmen soll sich Marijnen 1958 für die Begnadigung von Ordensbrüdern eingesetzt haben, die wegen sexuellem Missbrauch verurteilt waren.

Heithuis kurz vor seinem Tod (Bild: PD)

Die menschenverachtende Behandlung des Zöglings Heithuis wäre ohne Cornelius und IJsbrand Rogge wohl nie ans Licht der Öffentlichkeit gekommen. Die heute 79 und 82 Jahre alten Brüder lernten Heithuis 1957 kennen. Der durch die Kastration physisch und psychisch gezeichnete junge Mann erzählte ihnen seine erschütternde Lebensgeschichte: Wie er als Pflegekind in katholischen Heimen aufgewachsen war. Wie er im Internat Harreveld zwischen 1951 und 1954 immer wieder missbraucht worden war. Wie er Anfang 1956 schliesslich aufbegehrte und Anzeige gegen die Patres erhob – worauf man aus dem Opfer einen Täter machte und ihn in die römisch-katholisch geführte psychiatrische Einrichtung Huize Padua einwies. Und wie er dann im St. Joseph-Krankenhaus in Veghel kastriert wurde. Heithuis war zu diesem Zeitpunkt erst 20 Jahre alt und nach damals geltendem Recht noch minderjährig.

«Da war nichts mehr da, da unten»

Wie gründlich man den jungen Mann «behandelt» hatte, sahen die Brüder Rogge, als er ihnen einmal seine vestümmelten Genitalien zeigte. «Er liess seine Hose runter, und da war tatsächlich nichts mehr da, da unten», erzählte Cornelius Rogge in der TV-Sendung «Nieuwsuur». 1957 verklagte Heithuis die psychiatrische Einrichtung Huize Padua wegen der Kastration. Die Klage war noch hängig, als er im Jahr darauf bei einem Autounfall starb. Nach seinem Tod versuchten die Gebrüder Rogge jahrzehntelang, die Geschichte publik zu machen – doch niemand wollte ihnen glauben. Erst Joep Dohmen, der schon mehrere Artikel über Missbrauch in der katholischen Kirche veröffentlicht hat, begann ernsthaft zu recherchieren.

Henk Heithuis entging dem Griff der Kirche übrigens auch nach seinem Tod nicht: Er wurde – gegen seinen erklärten Willen – nach katholischem Ritus begraben.

Video: «Die Geschichte von Henk Heithuis»

«Nieuwsuur» vom 17.3.2012 (niederländisch mit englischen Untertiteln)

(Quelle: YouTube/MichaelRogge)

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