EvolutionIst Religion nur ein Abfallprodukt?
Religiöse Vorstellungen finden sich zu allen Zeiten in allen Kulturen. Wissenschaftler glauben, dass sich diese Tatsache mithilfe der Evolutionstheorie erklären lässt.

Führen religiöse Rituale wie diese Prozession auf Kuba zu mehr Zusammenhalt?
Religionen sind in vieler Hinsicht merkwürdige Phänomene. Sie erfordern den Glauben an übernatürliche Wesen wie Götter und Dämonen, für deren Existenz es keinerlei überzeugende Belege gibt. Ausserdem verlangen sie von ihren Anhängern, dass sie Rituale praktizieren, die scheinbar völlig sinnlos sind.
Dennoch sind bisher keine völlig religionslosen Kulturen bekannt. Kann es sein, dass sich in der Evolution des Menschen auch ein Sinn für Religiosität entwickelt hat? Genau das behaupten mehrere Theorien, die in den letzten beiden Jahrzehnten entstanden sind.
Anpassung oder Abfallprodukt?
Unter den Forschern haben sich zwei Lager herausgebildet: Die Adaptionisten sehen in der Religion eine Anpassung, die ihren Anhängern einen Vorteil im Kampf ums Überleben bietet. Ihre Gegner meinen, sie sei ein Abfallprodukt einer anderen Anpassungsleistung, das sich dann verselbständigt hat.
Das Gehirn sucht überall Zusammenhänge
Abfallprodukt-Theoretiker wie die Ethnologen Pascal Boyer und Scott Atran weisen darauf hin, dass unser Gehirn darauf programmiert ist, überall Kausalbeziehungen zu suchen, weil das hilft, Vorkehrungen für die Zukunft zu treffen. Die Annahme, etwas geschehe ohne besonderen Grund, widerstrebt uns zutiefst. Wenn man für ein Ereignis keine natürliche Erklärung findet, liegt es nahe, das Wirken von unsichtbaren Kräften dahinter zu vermuten. So machten etwa die alten Griechen Göttervater Zeus für den Donner verantwortlich. Ähnlich schreiben Krebspatienten, bei denen eine Spontanheilung eingetreten ist, ihre Genesung oft einem göttlichen Wunder zu. Die Erklärung, das sei «einfach so» geschehen, wirkt unbefriedigend.
Wer raschelt da im Laub?
Im Lauf der Evolution haben wir einen starken Hang entwickelt, hinter scheinbar toten Dingen ein lebendiges Prinzip zu vermuten. Ein Urmensch tat gut daran, das Rascheln von Blättern oder das Knacken von Zweigen auf die Präsenz eines Raubtiers oder Feindes zurückzuführen und die Flucht zu ergreifen. Angesichts dieser tief verwurzelten Haltung ist es nicht erstaunlich, so die Evolutionsforscher, dass wir dazu neigen, rätselhafte Geschehnisse als Handlungen unsichtbarer Wesen zu interpretieren.
Theorie des Geistes
Schliesslich verfügen Menschen über eine «Theorie des Geistes», also über die Fähigkeit, sich die geistigen Prozesse anderer vorzustellen, obwohl sie sie nicht direkt wahrnehmen. Das führt leicht zu der Annahme, Körper und Geist liessen sich trennen. Von da ist es nur ein kleiner Schritt, sich auch eine körperlose Seele und einen übersinnlichen Gott vorzustellen.
Religion als soziales Bindemittel
Einen anderen Ansatz verfolgen Adaptionisten wie der Evolutionsbiologe David Sloan Wilson (siehe Infobox) oder der Sozialpsychologe Jonathan Haidt: Ihnen zufolge haben sich in der menschlichen Entwicklungsgeschichte diejenigen Gruppen durchgesetzt, die besonders gut kooperierten. Religionen fördern aber die Zusammenarbeit, denn wenn Verhaltensnormen als göttliche Gebote betrachtet werden, erscheinen sie als sehr viel verbindlicher, als wenn sie nur auf menschlicher Vereinbarung beruhen. Daher hatten religiöse Gruppen einen Vorteil in der Konkurrenz mit nichtreligiösen.
Keine dieser Theorien kann allein den Ursprung der Religionen erklären. Sie machen aber immerhin plausibel, warum sich religiöse Vorstellungen so hartnäckig halten. Auch offiziell atheistischen Staaten wie der Sowjetunion ist es niemals gelungen, sie ganz zum Verschwinden zu bringen.
Eine seltsame Religion: der Mbona-Kult
David Sloan Wilson hat seine These vom sozialen Nutzen der Religion anhand von 35 zufällig ausgewählten Religionen zu bestätigen versucht. Ein besonders eindrückliches Beispiel liefert der afrikanische Mbona-Kult. Dessen Anhänger errichten immer wieder einen heiligen Schrein. Da dieser nach einiger Zeit von selbst zerfällt, muss ein neuer Schrein errichtet werden, doch zuvor müssen die Gläubigen ihre Streitigkeiten beigelegt haben. Als Europäer den Afrikanern anboten, den Schrein aus dauerhafterem Material zu errichten, lehnten sie ab. In Wahrheit ist das Heiligtum nebensächlich: Was wirklich zählt, ist dessen versöhnende gesellschaftliche Funktion.