FichenskandalAls die Schweiz ihre Bürger ausschnüffelte
Ende 1989 kam ans Licht, dass die Bundespolizei fast eine Million Schweizer ausspioniert hatte. Das Vertrauen vieler Bürger in den Staat war erschüttert.
Menga Danuser (SP) war die erste Frau, die den Kanton Thurgau im Nationalrat repräsentierte. Landesweite Berühmtheit erlangte sie 1990, als bekannt wurde, dass der Schweizer Staatsschutz ein Dossier über sie angelegt hatte. Darin war unter anderem zu lesen, dass sie «abends gern ein Bier» trinke.
Danuser befand sich in guter Gesellschaft. Am Sitz der Bundesanwaltschaft in Bern wurden Karteikarten, sogenannte Fichen, aufbewahrt, die Informationen über rund 900'000 Personen und Organisationen enthielten. Rekordhalter war der marxistische Buchhändler Theo Pinkus, dessen Dossier mehr als 250 Seiten umfasste.
Kopp-Affäre
Dass die Öffentlichkeit überhaupt von der bundespolizeilichen Sammelwut erfuhr, lag an der freisinnigen Justizministerin Elisabeth Kopp. Ihr Mann, der Anwalt Hans W. Kopp, sass im Verwaltungsrat der Firma Shakarchi Trading AG, die verdächtigt wurde, Drogengelder zu waschen.
Anfang Dezember 1988 gab Bundesrätin Kopp zu, dass sie ihren Mann telefonisch über die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft und der Tessiner Staatsanwaltschaft informiert hatte. Am 12. Januar trat sie zurück.
National- und Ständerat setzten eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) ein, die Kopps Rücktritt und die Arbeitsweise der Bundesanwaltschaft durchleuchten sollte. Den Vorsitz übernahm der Sozialdemokrat Moritz Leuenberger.
Der PUK-Bericht
Am 24. November 1989 präsentierte die PUK ihren Bericht der Öffentlichkeit. Sein Inhalt rief einen Aufschrei der Empörung hervor. Beinahe jeder, dessen Aktivitäten im weitesten Sinn als links ausgelegt werden konnten, lief Gefahr, von den Staatsschützern fichiert zu werden. Eine Reise in den Ostblock, der Kauf gewisser Bücher oder die Teilnahme an Demonstrationen konnten zu einem Eintrag führen.
Dabei waren viele Informationen ähnlich lächerlich wie die oben erwähnten über Menga Danuser. Der WWF war beispielsweise vermerkt worden, weil er eine Velo-Demo für die Anti-Atom-Initiative unterstützt hatte.
Die PUK kritisierte, der Staatsschutz habe sich von «teilweise überholten Bedrohungen» leiten lassen und dafür «neue Gefahren nicht rechtzeitig erkannt», Daten unzureichend gesammelt und fehlerhaft verwendet.
Akteneinsicht und Geheimarmeen
Der neue Justizminister Arnold Koller gelobte Besserung. Betroffenen wurde Einsicht in ihre (allerdings geschwärzten) Fichen gewährt, Auslandsreisen und politische Aktivitäten sollten nun nicht mehr zu Einträgen führen.
Doch schon im Februar musste er einräumen, dass man erneut fündig geworden war. Im Keller der Bundespolizei befanden sich unter anderem eine Extremistenkartei und eine Liste «vertrauensunwürdiger und verdächtiger» Bundesangestellter. Zudem wurde bekannt, dass auch der Nachrichtendienst der Armee «Verdächtigen» nachgeschnüffelt hatte.
Erneut setzte man eine PUK ein. Sie brachte ans Tageslicht, dass eine Geheimarmee namens P-26 existierte, die sich auf den bewaffneten Widerstand gegen den «kommunistischen Feind» vorbereitet hatte.
Am 3. März 1990 forderten 30'000 Demonstranten auf dem Bundesplatz in Bern die Abschaffung der politischen Polizei und volle Akteneinsicht.
Isis und der «zweite Fichenskandal»
Allmählich verpuffte die Empörung über die Karteien, weil die Debatte über einen möglichen EWR-Beitritt der Schweiz immer mehr Aufmerksamkeit beanspruchte. Man nahm kaum noch zur Kenntnis, dass 1994 die Staatsschutzdatenbank Isis in Betrieb genommen wurde, ein elektronisches Informationssystem, das weit genauere Recherchen erlaubt.
Doch dann deckte 2010 die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) auf, dass rund 200'000 Personen in Isis registriert waren, wobei in vielen Fällen die vorgeschriebene Überprüfung nicht vorgenommen worden war. Man reagierte: Anfang 2015 gab es dort nur noch 31'000 Einträge.
Angesichts dieser Vergangenheit kann es nicht erstaunen, dass das Nachrichtendienstgesetz, über das wir am 25. September abstimmen, heftig umstritten ist. Währenddessen lagern die Fichen aus dem 20. Jahrhundert im Bundesarchiv, belegt mit einer 50-jährigen Sperrfrist. Generationen von Historikern werden ihre Freude an ihnen haben.