Vor fünf JahrenDer Tsunami - die Sintflut des 21. Jahrhunderts
Kurz vor acht Uhr am Morgen bebte am 26. Dezember 2004 vor der Nordwestküste Sumatras der Meeresboden. Das zweitstärkste Beben der Geschichte löste eine gigantische Flutwelle aus, die über die Küsten des Indischen Ozeans hereinbrach und über 230 000 Menschen tötete. Es war die schlimmste Naturkatastrophe der 00er-Jahre.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag zerriss die Nachricht von einem schweren Seebeben im Indischen Ozean die satte Gemütlichkeit der Festtage. Zunächst war nicht klar, was da genau geschehen war, in Südasien, aber mit jedem Bericht stieg die Opferzahl, nahm das Entsetzen zu. Allmählich zeigte sich das Ausmass der Katastrophe; immer neue Bilder und immer mehr verwackelte Videos vermittelten einen Eindruck von der Zerstörungsgewalt des Tsunamis. Und sofort — wie immer, wenn Tod und Zerstörung ferne Länder treffen — war die Frage da, ob unter den Opfern Landsleute zu finden seien. Tatsächlich hatte der Tsunami nicht nur namenlose indonesische Fischerdörfer ausradiert, sondern auch Touristen-Resorts an den paradiesischen Stränden Thailands und Sri Lankas verwüstet. 112 Schweizer, so stellte sich in den folgenden Wochen heraus, waren der Killerwelle zum Opfer gefallen; 109 von ihnen in Thailand. Seit dem Bergsturz von Goldau im Jahre 1806 hatte kein einzelnes Ereignis so viele Schweizer das Leben gekostet.
Gigantischer Bogen der Zerstörung
Das Ausmass der Katastrophe war enorm. Auch wenn es — was die schiere Opferzahl anbelangt — nicht die schlimmste Naturkatastrophe aller Zeiten war, wie oft behauptet wird, so zeigt nur schon die riesige Entfernung zwischen den betroffenen Gebieten, wie gewaltig das Ereignis war: Von Thailand im Osten und Bangladesch im Norden über Sri Lanka bis nach Ostafrika reichte der Bogen der Zerstörung. Am schlimmsten traf es Indonesien mit schätzungsweise über 160 000 Toten, Sri Lanka (über 35 000 Tote) und Indien (über 16 000 Tote). Millionen wurden obdachlos; zahllose Menschen fielen überdies nicht dem Tsunami selbst zum Opfer, sondern dessen Folgen, zum Beispiel verunreinigten Trinkwasserquellen.
Der Tsunami verursachte so viel Leid, dass einzelne Vorfälle, die sonst grosses Aufsehen erregt hätten, völlig darin untergingen. So riss die Flutwelle bei Peraliya an der Südwestküste Sri Lankas einen Zug von den Schienen und tötete allein dort weit mehr als 1000 Menschen — doch dieses grösste Zugsunglück in der Geschichte ist kaum mehr als eine Fussnote in der Geschichte des Tsunami.
Flut der Bilder, Flut der Spenden
Wohl noch nie zuvor war eine Katastrophe von so vielen Kameras festgehalten worden. Da sich das Meer an vielen Stellen zu Beginn zurückgezogen hatte — was der Fall war, wenn zuerst das Wellental die Küste erreichte —, hatten viele Touristen das seltsame Geschehen arglos gefilmt. Manche Videos wurden später in Geräten gefunden, deren Besitzer den Tsunami nicht überlebt hatten. Die Bilder der Flut und der Verwüstungen, die sie angerichtet hatte; die Bilder der Opfer, der Toten und der Überlebenden, lösten eine riesige Welle der Solidarität aus.
Zahlreiche Länder entsandten Hilfskräfte und brachten Hilfsgüter in die Krisenregion. Das Schweizerisches Korps für Humanitäre Hilfe schickte Expertenteams und medizinisches Material; die Schweizerische Rettungsflugwacht Rega flog über 60 Patienten in die Schweiz zurück. Namhafte Beträge wurden gespendet, von Staaten und von Privaten: Allein Deutschland spendete insgesamt über eine Milliarde Euro, davon rund die Hälfte aus privaten Quellen; aus der Schweiz kamen 160 Millionen Euro (knapp 240 Millionen Franken). Immerhin hat das Hilfswerk Caritas international fünf Jahre nach der Katastrophe eine positive Bilanz des Wiederaufbaus gezogen: Den Menschen, die den Tsunami überlebt hätten, gehe es heute mit Sicherheit zu einem grossen Teil besser als davor, sagte der deutsche Caritas-Direktor Oliver Müller kürzlich.
So stark wie 100 Gigatonnen TNT
Ausgelöst wurde die Killerwelle durch ein geologisches Geschehen, das sich 30 Kilometer tief unter dem Meeresboden vor der Nordwestküste der indonesischen Insel Sumatra abspielte. Dort schiebt sich die Indisch-australische Platte langsam unter die Eurasische Platte, wobei immer wieder enorme Spannungen aufgebaut werden, die sich ruckweise lösen. So auch am 26. Dezember 2006, als ein Stück des Meeresbodens wegbrach und damit eine Wassersäule von 30 Kubikilometern in Bewegung versetzte.
Das Seebeben, das mit einer Stärke von 9,0 bis 9,3 von den Geologen als zweit- oder drittstärkstes aufgezeichnetes Beben der Geschichte gewertet wird und eine Energie im Äquivalent von 100 Gigatonnen TNT freisetzte, verschob die Erdachse um 2,5 Zentimeter und drängte die riesige Eurasische Platte für einige Minuten zwei Zentimeter nach Norden. Die Inselgruppe der Nikobaren im Golf von Bengalen wurde dauerhaft um 15 Meter nach Südwesten verschoben.
Die tektonische Bruchzone vor Sumatra ist mit dem grossen Beben vom Dezember 2004 noch nicht zur Ruhe gekommen; Ende September 2009 bebte die Erde auf der indonesischen Insel erneut. Möglicherweise wird es in absehbarer Zeit wieder zu einem schweren Seebeben kommen. Den Geologen zufolge befinden wir uns in dieser Region gerade mitten in einer Erdbeben-Sequenz, in der sich die aufgebaute Spannung zwischen den Platten entlädt, bevor wieder für 100, 200 Jahre Ruhe herrscht. Das letzte Beben in einer solchen Sequenz ist zudem häufig eines der stärkeren. Der nächste Tsunami in Indonesien ist somit nur eine Frage der Zeit.
Tsunami
Der Begriff, seit den Sechzigerjahren in der Wissenschaft etabliert, ist mit dem verheerenden Seebeben im Dezember 2004 Allgemeingut geworden. Das Wort stammt aus dem Japanischen und bedeutet «Welle im Hafen» oder «Hafenwelle». Der Grund für diese Bezeichnung liegt darin, dass japanische Fischer während ihrer Arbeit auf hoher See meistens keine grösseren Wellen bemerkt hatten und erst bei der Rückkehr in den Heimathafen Dörfer und Felder verwüstet vorfanden.
Fast neunzig Prozent der Riesenwogen werden durch Erdbeben auf dem Meeresgrund (Seebeben) ausgelöst; sie haben nichts mit herkömmlichen, durch Gezeiten und Winde verursachten Flutwellen zu tun. Vulkanausbrüche, Bergstürze, Unterwasserlawinen oder Meteoriteneinschläge verursachen die restlichen zehn Prozent der Tsunamis.
Damit ein Erdbeben einen Tsunami auslösen kann, muss es auf der Richterskala eine Magnitude von mindestens 7 erreichen. Zudem muss das Epizentrum am Meeresgrund liegen. Die vertikale Verschiebung des Meeresbodens versetzt dann die gesamte darüber liegende Wassersäule vom Boden bis zur Oberfläche ruckartig in Bewegung.
Von Stürmen erzeugte Wogen erreichen meistens nur eine Höhe von zehn Metern und eine Länge von maximal 150 Metern. Unterhalb einer Wassertiefe von 200 Metern ist bei diesem Wellentyp alles ruhig. Bei Tsunamis sind die Wellenlängen auf dem offenen Meer dagegen gigantisch: Zwischen den Wellenkämmen liegen 100 bis 300 Kilometer, im Extremfall sogar 500 Kilometer. Da der Energieverlust umso geringer ausfällt, je grösser die Wellenlänge ist, können Tsunamis riesige Distanzen zurücklegen.