Die fatale Raserei des «Schweiz-Express»

Aktualisiert

Trauriges JubiläumDie fatale Raserei des «Schweiz-Express»

Vor 40 Jahren fuhr der D-Zug 370 mit 140 statt 75 km/h in eine Kurve im badischen Rheinweiler, entgleiste und schoss in eine Siedlung. 23 Menschen starben, darunter zwei Schweizer.

von
Jean-Claude Gerber

Am Nachmittag des 21. Juli 1971 wurden die Einwohner des beschaulichen Ortes Rheinweiler, rund 20 Kilometer nördlich von Basel gelegen, von ohrenbetäubendem Lärm aufgeschreckt. Sie berichteten der «Badischen Zeitung», sie hätten einen «Schlag wie ein Erdbeben» gespürt und dann nur noch eine riesige Staubwolke gesehen. Der D-Zug 370 «Schweiz-Express» von Chur nach Kopenhagen war um 13.10 Uhr in einer scharfen Rechtskurve vor der Einfahrt in den Bahnhof entgleist. Die Lokomotive und sechs der acht Waggons stürzten daraufhin eine fünf Meter hohe Böschung hinunter und prallten auf mehrere Häuser.

Sofort riefen die Behörden Katastrophenalarm aus. Den herbeigeeilten Rettern bot sich ein Bild des Schreckens. Die Lokomotive, eine erst wenige Monate alte 103, hatte sich tief in den Boden gebohrt, wie die «Badische Zeitung» schrieb. Ein entgleister Wagen hatte ein Wohnhaus dem Erdboden gleich gemacht. Zwei Hausbewohner, darunter ein sechsjähriger Junge, hatten keine Chance. Schwere Eisenbahnwagen lagen am Bahndamm, auf der Strasse und in Vorgärten – völlig demoliert, als wären sie aus Papier gemacht. Zwischen den Trümmern irrten verletzte und unverletzte Passagiere umher, die Angehörige oder ihre überall verstreuten Habseligkeiten suchten.

Rettungskräfte aus drei Ländern

Im Laufe des Tages wuchs die Zahl der Retter und Helfer auf mehrere hundert an. Auch aus der Schweiz und Frankreich trafen Mannschaften ein. Helikopter der Bundeswehr und der französischen Armee transportierten Verletzte in umliegende Spitäler. Bald wurden die ersten Toten geborgen. Insgesamt verloren 20 Reisende, darunter zwei Schweizer, und der Lokführer in dem zu rund 75 Prozent besetzten Zug ihr Leben. Mehr als 120 Menschen wurden teils schwer verletzt.

Als Unfallursache kristallisierte sich schnell heraus, dass der Zug mit rund 140 km/h in die Kurve gerast war, die nur für eine Geschwindigkeit von 75 km/h zugelassen war. Weshalb der Zug an diesem hochsommerlichen Mittwoch auf der kurvenreichen Strecke so schnell unterwegs war, konnte nie abschliessend geklärt werden. Zweieinhalb Jahre später stritten Wissenschaftler, Juristen und Bundesbahnverwalter, immer noch darüber, wer oder was Schuld an der Katastrophe trägt, wie der «Spiegel» schrieb.

Zwar konnte die Freiburger Staatsanwalt keine Schuld der Deutschen Bundesbahn feststellen und schmetterte Schmerzensgeldansprüche der Opfer ab, doch Zweifel blieben. Im Fokus stand die Sicherheit der neuen Superlok der DB, der Baureihe 103, die über 10 000 PS stark und 200 km/h schnell war. So wurde zumindest eine Mitschuld der mangelhaften Automatischen Fahr- und Bremssteuerung (AFB) der 103 festgestellt. Die DB verbot denn auch vorübergehend den Einsatz der AFB, bis technisch Abhilfe geschaffen wurde.

Schwarzes Jahr für die Bahn

Die Justiz erklärte schliesslich den 52-jährige Lokführer, der als zuverlässig gegolten hatte, zum Hauptverantwortlichen für das Unglück und stützte sich dabei gemäss «Spiegel» auf das Fazit des Gutachters Professor Erwin Meyer aus Zürich, der festhielt: «Ein aufmerksamer und voll handlungsfähiger Lokführer» hätte «das Unglück unter allen Umständen verhüten können».

Die Katastrophe von Rheinweiler war 1971 bereits das vierte schwere Eisenbahnunglück in der Bundesrepublik. Am 9. Februar entgleiste im bayerischen Aitrang der TEE «Bavaria» der SBB, der eine Rechtskurve mit 130 km/h statt 80 km/h befahren hatte. Kurz darauf prallte ein Schienenbus in den Unglückszug. 28 Tote waren zu beklagen. 42 Menschen wurden verletzt. Wie in Rheinweiler gab es an der Gefahrenstelle kein sogenanntes Induktives Zugbeeinflussungssystem, das den Zug automatisch hätte stoppen können. Erst nach Rheinweiler wurde das System flächendeckend ausgebaut. Am 18. Mai starben sechs Menschen, als ein D-Zug bei Illertissen in Bayern entgleiste. Nur neun Tage später stiess bei Radevormwald in Nordrhein-Westfalen ein Schienenbus mit einem Güterzug zusammen. Dabei starben 46 Menschen, davon 41 Schüler, die sich auf einer Schulabschlussfahrt befunden hatten.

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