Schriftsteller im ExilWar Tucholskys Tod ein Versehen?
Vor 75 Jahren starb der deutsche Journalist Kurt Tucholsky an einer Überdosis Veronal. Was lange als Suizid galt, war vielleicht gar nicht beabsichtigt.

Autor Kurt Tucholsky (1890-1935) und seine erste Frau Else Weil.
Die Hintergründe von Kurt Tucholskys Tod vor 75 Jahren in Schweden sind nach wie vor nicht ganz geklärt. Es wird angenommen, dass sich der Journalist und Schriftsteller aus Verzweiflung über die politische Situation in Deutschland und seinen schlechten Gesundheitszustand das Leben genommen hat. Er starb am Abend des 21. Dezember 1935 um 21.55 Uhr im Sahlgrenschen Krankenhaus in Göteborg an einer Überdosis Schlaftabletten. Tucholsky-Experten wie sein Biograf Michael Hepp bezweifeln, dass er die Überdosis Veronal absichtlich eingenommen hat.
Für einen Selbstmord spricht, dass sich Tucholsky gegen Ende des Jahres 1935 offenbar ernsthaft mit seinem Tod beschäftigte. In seinem Notizbuch, dem «Sudelbuch», findet sich der Eintrag: «Wenn ich jetzt sterben müsste, würde ich sagen: 'Das war alles?' - Und: 'Ich habe es nicht so richtig verstanden.' Und: 'Es war ein bisschen laut'». Auch schrieb er gegen Ende November einen Abschiedsbrief an seine zweite Frau Mary Gerold, die sich 1928 von ihm getrennt hatte. Darin zog er ein Resümee der gescheiterten Beziehung und bekannte sich nachträglich zu ihr. Ebenfalls änderte er gegen Ende November sein Testament. Er fügte hinzu, dass die 10 000 Schweizer Franken, die er seiner Zürcher Geliebten Hedwig Müller schuldete, aus seinem Nachlass bezahlt werden sollten. Daneben strich er ein persönliches Andenken, das er ihr zuvor noch hinterlassen wollte. Beides deutet darauf hin, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und der Schweizer Ärztin, mit der er wenige Monate zuvor noch Heiratspläne geschmiedet hatte, stark abgekühlt hatte.
Finanziell am Ende
Wenn dies zutrifft, schien ihm damals die Möglichkeit einer Übersiedlung in die Schweiz verwehrt. Seine Situation in Hindas, rund 35 Kilometer östlich von Göteborg, war ihm aber ebenfalls untragbar geworden. Schon seit einiger Zeit wollte er den zu gross gewordenen Hausstand auflösen, eventuell an die schwedische Ostküste umziehen. Für die Beziehung zu seiner schwedischen Vertrauten Gertrude Meyer, die sich ebenfalls Hoffnungen auf eine Heirat mit Tucholsky machte, sah er wohl ebenfalls keine Perspektive. Dennoch war er vorerst noch an Schweden gebunden. Er hoffte auf eine Einbürgerung, um nicht mehr als Staatenloser in seiner Reisefreiheit eingeschränkt zu sein. Doch dazu hätte er noch eine Zeitlang in Schweden leben müssen, da ein Antrag auf Einbürgerung erst nach einem siebenjährigen Aufenthalt gestellt werden konnte.
Sehr stark hat ihn wohl seine finanzielle Situation belastet. Der Mann aus gutbürgerlichem Hause pflegte zeit seines Lebens einen aufwendigen und teuren Lebensstil. Immer gut gekleidet und mit riesigen Reisekoffern unterwegs, machte er auf seine Zeitgenossen den Eindruck ein Mannes von Welt. Es war doppelt bitter für ihn, von den Überweisungen einer Frau abhängig zu sein, denn er hatte stets viel darauf gehalten, seinen Lebenspartnerinnen einen angemessenen Lebensstandard zu bieten. Auch gab es keine Aussicht, wieder an eigene Einnahmen zu gelangen. Sein heimatlicher Buch- und Zeitungsmarkt in Deutschland blieb ihm von den Nazis verwehrt. An der Exilpresse, die er abfällig «Käseblätter» nannte, beteiligte er sich aus Prinzip nicht.
Journalistisches Schweigen gebrochen
Doch genau dieses Prinzip wollte er im Dezember 1935 nach mehr als drei Jahren brechen. Sein literarisches Idol, der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun, hatte in einem Artikel Partei für die Nationalsozialisten ergriffen und den im Konzentrationslager inhaftierten Journalisten Carl von Ossietzky attackiert. Das brachte Tucholsky in Rage. Mehreren Zeitungen bot er Artikel an, um seinen früheren Kollegen von der linksintellektuellen Zeitschrift «Die Weltbühne» zu verteidigen. Noch am Tag vor seinem Tod schrieb er an eine norwegische Zeitung. Der Brief lag noch auf dem Schreibtisch, als er bewusstlos im Bett aufgefunden wurde. Der letzte von ihm überlieferte Satz, gerichtet an Hedwig Müller, lautete: «Ich berichte dann weiter; ich muss mal sehn, ob man nicht doch etwas drehen kann.»
Das klingt nicht nach einem Selbstmord. Ebenfalls verwunderlich ist, dass der passionierte Briefschreiber Tucholsky keinen wirklichen Abschiedsbrief hinterliess, weder an Hedwig Müller noch an seine Geschwister oder Freunde. Den Zettel mit der Aufschrift «Laisse-moi mourir en paix», den Gertrude Meyer auf dem Nachttisch gefunden haben will, hat es womöglich nie gegeben.
Endgültige Klärung scheint ausgeschlossen
Da ein Mordanschlag durch die Nationalsozialisten ebenfalls als Todesursache ausgeschlossen werden kann, bleibt für Tucholsky-Biograf Hepp noch die Möglichkeit, dass der «aufgehörte Schriftsteller», wie Tucholsky sich selbst nannte, die Überdosis Schlaftabletten unabsichtlich zu sich nahm. Für Hepp ist denkbar, dass Tucholsky in der Nacht zum 21. Dezember mit der gewohnten Menge an Schlafmittel nicht einschlafen konnte und, benebelt von Alkohol und Veronal, unbeabsichtigt eine weitere Dosis zu sich nahm. Diese sei dann tödlich gewesen.
Letztlich klären wird sich der Fall wohl nicht mehr. Alle bekannten Akten, Briefe und Unterlagen sind ausgewertet, die Zeitzeugen sind inzwischen alle gestorben. Vielleicht liegt diese Ungewissheit auch im Sinne Tucholskys. Im «Sudelbuch» notierte er ganz am Ende: «Er ging leise aus dem Leben fort, wie einer, der eine langweilige Filmvorführung verlässt, vorsichtig, um die andern nicht zu stören.»
Das Leben Kurt Tucholskys in 14 Daten
9. Januar 1890: Kurt Tucholsky wird in Berlin-Moabit geboren
November 1912: «Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte» erscheint und wird zu einem Überraschungserfolg
Januar 1913: Tucholsky beginnt seine Arbeit für die Theaterzeitschrift «Die Schaubühne», die später «Die Weltbühne» heißt. Er verwendet die Pseudonyme Ignaz Wrobel, Peter Panter, Theobald Tiger und Kaspar Hauser
April 1915: Nach der Promotion zum Dr. jur wird Tucholsky als Soldat im Ersten Weltkrieg eingezogen
1918-1924: Journalistische Tätigkeit in Berlin unter anderem für den «Ulk» und die «Weltbühne». Erfolgreicher Kabarettautor
April 1924: Wechsel nach Paris als Korrespondent für «Die Weltbühne» und die «Vossische Zeitung»
August 1924: Kurt Tucholsky und Mary Gerold heiraten. Seine erste Ehe mit Else Weil war zuvor geschieden worden
Dezember 1926: «Weltbühne»-Herausgeber Siegfried Jacobsohn stirbt. Tucholsky fährt sofort nach Berlin und übernimmt bis Mai 1927 die Leitung der «Weltbühne»
August 1929: Tucholsky mietet die Villa Nedsjölund im schwedischen Hindas an
Anfang Mai 1931: «Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte» erscheint
Juli 1932: «Weltbühne»-Herausgeber Carl von Ossietzky steht wegen Tucholskys Satz «Soldaten sind Mörder» vor Gericht. Er wird freigesprochen
10. Mai 1933: Bei der öffentlichen Bücherverbrennung in Deutschland brennen auch die Bücher Tucholskys
23. August 1933: Tucholsky steht auf der ersten Ausbürgerungsliste der Nationalsozialisten
21. Dezember 1935: Um 21.55 Uhr stirbt Kurt Tucholsky im Sahlgrenska Krankenhaus in Göteborg. Im Obduktionsbericht steht: «Intoxicatio? (Veronal?)»
(Quelle: Kurt Tucholsky-Gesellschaft / dapd)