Was ist dran am Mythos von Morgarten?

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700. JahrestagWas ist dran am Mythos von Morgarten?

Vor 700 Jahren besiegten die Waldstätter bei Morgarten ein Heer des habsburgischen Herzogs Leopold I. Die Schlacht wurde später prägend für das Selbstverständnis der Schweiz.

von
Rolf Maag

In der Nacht zum 15. November 1315 brach Leopold I., Herzog von Österreich, mit 9000 Mann von Zug auf, das damals zu seinem Herrschaftsbereich gehörte. Sein Ziel war die Talschaft Schwyz, der er eine Lektion erteilen wollte.

In einer Talenge beim Morgarten am Ägerisee liessen plötzlich 600 Schwyzer, 400 Urner und 300 Ob- und Nidwaldner Stöcke und Steine auf Leopolds Leute niederprasseln. Anschliessend stürmten die Urschweizer den Abhang hinab und schleuderten ihre Wurfspiesse auf die Ritter. Diese ergriffen sofort die Flucht und rannten dabei ihr eigenes Fussvolk um. 1000 Ritter, aber nur 14 Waldstätter fanden den Tod.

So schilderte jedenfalls der Glarner Aegidius Tschudi die Ereignisse in seinem rund 250 Jahre später entstandenen Werk «Chronicon Helveticum». Ob seine Erzählung der Wirklichkeit entspricht, ist allerdings mehr als fraglich.

Dürftige Quellenlage

Es gibt keine Augenzeugenschilderungen von der Schlacht, sondern lediglich zwei zeitnahe Berichte – einen böhmischen aus dem Jahr 1316 und einen in der 1340 verfassten Chronik des Mönchs Johannes von Winterthur. Dieser behauptet zwar, er habe als Kind die Rückkehr der Geschlagenen nach Winterthur erlebt, aber er gilt dennoch als äusserst unzuverlässiger Gewährsmann, weil er die Ereignisse literarisch überhöht und mit zahlreichen Zitaten aus dem Alten Testament anreichert.

Marchenstreit

Es ist aber unstrittig, dass es damals einen Konflikt zwischen den Urschweizern, besonders den Schwyzern, und den Habsburgern gab. Den Anlass dafür bildete der zu dieser Zeit stattfindende Übergang von der traditionellen Haltung von Schafen und Ziegen zur Rinderzucht. Damit reagierte man auf die gestiegene Nachfrage nach Lebensmitteln in Städten wie Zürich und Mailand.

Kühe benötigen aber mehr Futter, also auch mehr Weiden als Kleinvieh. Die Amtsleute des Klosters Einsiedeln begannen daher, Grenzen (Marchen) um die traditionell allen vorbehaltenen Allmenden zu ziehen und diese so für sich zu beanspruchen. Das erzürnte die Schwyzer Bauern, die sich um ihr angestammtes Weideland betrogen sahen. Der «Marchenstreit» war geboren.

Einsiedler Klosterbruch

Am Dreikönigstag 1314 überfielen die Schwyzer das Kloster Einsiedeln und nahmen mehrere Mönche als Geiseln. Dem Augenzeugen Rudolf von Radegg zufolge verhielten sie sich dabei ziemlich übel: Sie hätten nicht nur gründlich geplündert, sondern auch geweihte Hostien und Reliquien zertreten und sogar ihre Notdurft im Gotteshaus verrichtet. Dieses schändliche Treiben, das als «Einsiedler Klosterbruch» in die Geschichte eingegangen ist, trug ihnen ein Interdikt des Bischofs von Konstanz ein, also ein Verbot, die Messe zu feiern. Ausserdem musste es die Habsburger auf den Plan rufen, die sich als Beschützer des Klosters Einsiedeln verstanden.

Bund von Brunnen

Am 9. Dezember 1315 schlossen Uri, Schwyz und Unterwalden den Bund von Brunnen, in dem sie einander zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichteten. Er ersetzte den alten Bund von 1291, dem Obwalden noch nicht angehört hatte. Der Brief, der den Pakt besiegelte, wurde später auch «Morgartenbrief» genannt.

Er richtete sich gegen die Bedrohung durch die Habsburger, mit denen es in den folgenden Jahren immer wieder zu Scharmützeln kam. Erst 1318 wurde der Konflikt durch eine Friedensvereinbarung beigelegt. Weder in diesem Abkommen noch im Bundesbrief von 1315 fand die Schlacht am Morgarten Erwähnung. Sofern sie überhaupt stattgefunden hatte, empfanden sie offensichtlich alle Beteiligten als eine Fussnote der Geschichte.

Antihabsburgische Geschichtsschreibung

Dies änderte sich ab der Mitte des 15. Jahrhunderts. Habsburgtreue Gelehrte wie der Zürcher Chorherr Felix Hemmerli kritisierten damals die Eidgenossen scharf, weil sie sich gegen ihre rechtmässigen Herren, also die Habsburger, aufgelehnt hätten. Tatsächlich hatten die Eidgenossen 1386 das Luzerner Hinterland, 1415 den Aargau und 1460 den Thurgau erobert, alles habsburgische Gebiete.

Autoren wie der oben erwähnte Tschudi entgegneten, die Eidgenossen hätten sich zu Recht gewehrt, denn die Habsburger seien Tyrannen gewesen. Der Innerschweizer Freiheitswille habe sich schon früh gezeigt, zum Beispiel 1315 am Morgarten. Die Schlacht war zu einem Symbol für das eidgenössische Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit geworden.

Von 1848 zu den Weltkriegen

Diese Sichtweise fand nach 1848 immer weitere Verbreitung, weil sich die konservativen Innerschweizer im neu gegründeten, stark liberal geprägten Bundesstaat nicht recht wohlfühlten. Indem Geschichtsschreiber und Schulbuchautoren ihre wichtige Rolle in der heroischen Frühzeit betonten, erleichterten sie ihnen die Integration in das ungeliebte Gemeinwesen.

Besonders intensiv wurde der Geist von Morgarten während der beiden Weltkriege beschworen, als die Schweizer Unabhängigkeit bedroht schien. Am 1. August 1940 rief General Henri Guisan seinen Soldaten zu: «Das Vorgehen bei der Schlacht am Morgarten gebe ich euch als ein ewiges Vorbild, euch Soldaten und auch euch Führern!»

Heute

Dieses Geschichtsbild bekam erst nach 1968 Risse. 1971 schrieb Otto Marchi in seiner «Schweizer Geschichte für Ketzer»: Auch die berühmte ‹Freiheitsschlacht am Morgarten› erweist sich bei näherer Betrachtung durchaus nicht als ein ideologisch untermauerter Abwehrkampf gegen die habsburgischen Aggressoren, die auf diese Weise den Freiheitswillen der Eidgenossen brechen wollten. Es waren eindeutig unsere friedliebenden Bundesgründer, die Habsburg durch einen schwerwiegenden Rechtsbruch den Grund zu diesem Vergeltungszug geliefert haben.»

Die Nationalkonservativen um Christoph Blocher kehren heute wieder zur alten Sicht der Dinge zurück. In ihrem Weltbild spielt Brüssel die Rolle, die früher den Habsburgern zukam. Das zeigt, dass Morgarten bis in die Gegenwart als Mythos dient, der das Selbstverständnis und das politische Handeln vieler Schweizer prägt. Ob zum Guten oder zum Schlechten, muss jeder selbst entscheiden.

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