Harte Strafen«Die Seismologen haben alles richtig gemacht»
Sieben italienische Experten sind wegen dem Erdbeben in l'Aquila zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Der Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes hat für die Urteile kein Verständnis.

In Onna bei Aquila sind die Spuren des Erdbebens von 2009 noch deutlich sichtbar.
Wissenschaftler in aller Welt haben alarmiert auf die Verurteilung von sechs Erdbebenspezialisten in Italien wegen ungenügender Warnung vor den Erdbeben von 2009 reagiert. Stefan Wiemer, der Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes (SED), beschrieb seine Reaktion am Dienstag als eine Mischung aus Überraschung, Befremden und Unverständnis über den harten Richterspruch.
Ein gewisses Verständnis könne er aber für die klagenden Angehörigen der Opfer aufbringen. «Sie haben einen – wie sich im Nachhinein herausstellte - falschen Ratschlag erhalten und mussten in der Folge Tote beklagen», erklärte er gegenüber 20 Minuten Online. «Trotzdem haben die italienischen Seismologen alles richtig gemacht.» Die sogenannten Schwarmbeben, wie sie 2009 in der Region von L'Aquila aufgetreten sind, könnten gelegentlich Vorboten von grösseren Beben sein. Dies sei in weniger als einem Prozent aller Schwarmbeben der Fall.
Wahrscheinlichkeit von 1 Prozent
Auf die Schweiz übertragen führte Wiemer das Beispiel Basel an, das in einer bekannten Gefährdungszone liegt. Würden in der Region Basel mehrere spürbare Beben registriert werden, würde der SED die Öffentlichkeit informieren und auf eine möglicherweise höhere Gefährdung hinweisen. Doch das würde kaum zu einer Evakuierung der Region führen, die übrigens nicht der SED sondern die kantonalen Behörden anordnen würde. «Es ist deshalb kaum realistisch, Basel für Tage oder gar Wochen zu evakuieren», so Wiemer. Würde man die Menschen jedes Mal evakuieren, so täte man das im Schnitt 100-mal, bis es zu einem grossen Beben käme.
Deshalb kam der SED in einer eigenen, nach dem Erdbeben von L'Aquila erstellten Studie zum Schluss, dass eine «Schwarmbeben-Aktivität nicht zu einer allgemeinen Evakuierung führen sollte», wie Wiemer der Nachrichtenagentur SDA sagte. «Ich hätte wohl in einer ähnlichen Situation in der Schweiz nicht gross anders reagiert als die Kollegen in Italien.»
Folgen für die künftige Kommunikation
Als Konsequenz aus dem Urteil sieht Wiemer die Notwendigkeit, künftig noch präziser zu kommunizieren und sich auf wissenschaftliche Aussagen und gesicherte Zahlen zu beschränken. Wichtig sei zudem, in der Kommunikation auf die Grenzen der Wissenschaft hinzuweisen: «Erdbeben lassen sich nicht vorhersagen». Doch es sei bekannt, dass sich Wahrscheinlichkeiten schlecht kommunizieren liessen.
Das führe zu einem Dilemma, denn als Forscher werde man in einem solchen Fall von der Öffentlichkeit dazu gedrängt, einfache Angaben zur Gefährdung zu machen. Das sei den italienischen Experten nun zum Verhängnis geworden. Sie hatten wenige Tage vor dem Beben kommuniziert, dass eine Reihe von vorangegangenen Erdstössen in der Region auf kein erhöhtes Erdbebenrisiko hinweise.
Die italienische Justiz hatte am Montag sechs Seismologen und einen Regierungsbeamten wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen. Sie hätten die Anzeichen für das verheerende Beben in den Abruzzen 2009 falsch eingeschätzt und die Bevölkerung «ungenau, unvollständig und widersprüchlich» über die Gefahr informiert.
«Krasses Fehlurteil»
Kollegen in aller Welt kritisieren das Urteil scharf. Als «absurd und gefährlich» bezeichnete es die US-Wissenschaftlervereinigung «Union of Concerned Scientists». Die American Geophysical Union warnte, dass eine drohende Strafverfolgung Wissenschaftler in Zukunft daran hindern könnte, Regierungen zu beraten und sich bei der Einschätzung von Risiken festzulegen.
Aus Protest gegen das Urteil legte der amtierende Präsident der italienischen «Kommission für grosse Risiken», Luciano Maiani, am Dienstag sein Amt nieder. Die Bedingungen, um in Ruhe zu arbeiten, seien nicht gegeben, sagte er der italienischen Nachrichtenagentur ANSA.
Verurteilter Seismologe «verzweifelt»
Als «entmutigt» und «verzweifelt» bezeichnete sich der verurteilte Seismologe Enzo Boschi am Dienstag gegenüber der italienischen Tageszeitung «Il Messaggero». Zusammen mit den anderen sechs Mitgliedern der «Kommission für grosse Risiken» war Boschi im März 2009 zum Schluss gekommen, dass kein erhöhtes Risiko bestünde.
Beim Erdbeben der Stärke 6,3 waren in der mittelitalienischen Stadt L'Aquila 300 Menschen gestorben und über 1000 verletzt worden. Kurz zuvor wären zwar Erdstösse gemessen worden, jedoch in einiger Entfernung von L'Aquila, sagte Boschi. Er betonte, dass die Entscheidung zu einer Evakuierung nicht bei den Wissenschaftlern liege, sondern bei Politikern und Behörden.
Der einzige Schutz sei zudem eine erdbebensichere Bauweise, so Boschi. Obwohl strenge Bauvorschriften in der Region gelten würden, seien diese bei vielen der in L'Aquila eingestürzten Häuser nicht eingehalten worden.
Das Urteil von L'Aquila gegen die Wissenschaftler ist noch nicht rechtskräftig. Angehörige der Opfer begrüssten das Verdikt. (jcg/sda)
Geothermie-Prozess in Basel
Auch Schweizer Richter mussten schon über strafrechtliche Konsequenzen von Erdbeben urteilen. Im Dezember 2009 sprach das Basler Strafgericht den Leiter des Basler Geothermie-Projekts frei. Im Dezember 2006 hatten Bohrungen für das Projekt Deep Heat Mining im Basler Stadtteil Kleinhüningen mehrere Erdbeben ausgelöst und Millionenschäden verursacht. Die Staatsanwaltschaft hatte eine bedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten wegen Sachbeschädigung mit grossem Schaden und Verursachung einer Überschwemmung oder eines Einsturzes gefordert. Dagegen kam das Gericht zum Schluss, dass der Geologe weder vorsätzlich gehandelt, noch seine Sorgfaltspflichten verletzt habe. (sda)