Mythos JungfrauKleines Häutchen sorgt für grossen Wirbel
Ein amerikanisches Porno-Portal lockte sein Publikum mit einer «Hymen-Cam» und daran anschliessender Live-Defloration an. Woher kommt der Hype ums Hymen?

«Vaginale Jungfrau»: Model Nicki Blue (Bild: Kink.com)
Vor kurzem war Nicki Blue (21) noch Jungfrau. «Eine vaginale Jungfrau», präzisierte Kink.com, ein amerikanisches Porno-Unternehmen mit Domizil in San Francisco. Doch am 15. Januar 2011 sollte Schluss mit der Jungfräulichkeit sein, versprach die Firma: Nicki wurde live entjungfert, wobei das Publikum ganz demokratisch entscheiden durfte, welcher der drei anwesenden männlichen Pornodarsteller die Defloration vornehmen sollte. Zuvor aber überprüfte ein «ausgebildeter Experte» mittels der offiziellen «Hymen-Cam» von Kink.com, ob Nicky tatsächlich noch unberührt war. Ein Countdown auf der Website informierte das Publikum, wie lange es bis zum Beginn der Entjungferung noch dauerte.
Firmengründer Peter Acworth behauptet, bisher habe noch nie ein Model seine Jungfräulichkeit live – der Event war per Internetstream abrufbar – verloren. Das mag so sein. Sicher ist aber, dass schon mehrmals junge Frauen im Internet ihr Jungfernhäutchen zu Markte getragen haben. Und auch Hollywood hat das Thema aufgegriffen: Brooke Shields schaffte 1978 in «Pretty Baby» als erst 13-Jährige den Durchbruch in ihrer Rolle als Violet, die in einem Bordell aufwächst und deren Jungfräulichkeit unter den Freiern versteigert wird.
Alles hängt am intakten Hymen
Offenbar hat die Jungfräulichkeit und mehr noch deren Verlust schon immer – vor allem männliche – Hirne und Hormone beschäftigt. Von der christlichen Jungfrauengeburt über das Ius primae noctis bis zu den Keuschheitsgelöbnissen amerikanischer Teenager – es hängt alles am intakten Hymen. Und wenn hinter dem Jungfrauen-Mythos meist mehr Legende als Realität steckt, so tut dies dessen Wirksamkeit kaum Abbruch. Vergewaltigen südafrikanische Männer heute noch unberührte Mädchen, weil sie glauben, so ihre Aids-Krankheit heilen zu können, dann steckt in diesem entsetzlichen Aberglauben die Kraft des Jungfrauen-Mythos. Das gilt auch in nicht so verheerender Weise für die Zunahme der Anzahl plastischer Operationen zur Wiederherstellung des Jungfernhäutchens (Hymenalrekonstruktion), die mit der Bedeutung der Jungfräulichkeit in islamischen und südeuropäischen Gesellschaften zu tun hat. Die angehenden Bräute stellen damit sicher, dass sie nach der Hochzeitsnacht ordnungsgemäss ein blutiges Bettlaken vorweisen können.
Das Siegel des Patriarchats
Letztlich geht es bei der Kontrolle der Jungfräulichkeit um die Kontrolle der weiblichen Sexualität. Das unversehrte Hymen ist das Siegel des Patriarchats. Die Kontrolle der Jungfräulichkeit – und danach der ehelichen Treue – dient der Sicherstellung der Vaterschaft und damit letztlich der männlichen Macht. Der grausame Extremfall des Kontrollwahns ist dabei die Genitalverstümmelung, die die weibliche Sexualität nahezu zerstört.
In extrem patriarchalischen – vor allem, aber beileibe nicht nur in islamisch geprägten – Kulturen ist die Ehre des Mannes an das sexuelle Wohlverhalten der weiblichen Familienmitglieder geknüpft; insbesondere hängt sie am intakten Jungfernhäutchen der unverheirateten Töchter. Im schlimmsten Fall wird ein beschädigtes Hymen, das zugleich die Ehre verletzt, mit einem so genannten «Ehrenmord» aus der Welt geschafft.
Ius primae noctis und Kranzgeld
Die zuweilen obsessive Faszination, die das Häutchen mit dem gewissen Etwas auf Männer ausübt, zeigt sich auch daran, dass die Entjungferung in manchen archaischen Kulturen als gefährlich galt – für den Mann. Dahinter steckte wohl eine magische Furcht vor dem Vaginalblut (die Furcht des Mannes vor der Vagina hat sich in der Vorstellung der Vagina dentata kristallisiert). Die Defloration musste daher von der Frau selbst mit einem geeigneten Instrument vorgenommen oder aber von einem Stellvertreter, beispielsweise einem Medizinmann oder Häuptling, ausgeführt werden. Von dieser Praxis führt wohl ein indirekter Weg zur Legende vom Ius primae noctis, wonach ein Feudalherr bei der Hochzeit eines Untertanen die erste Nacht mit der Braut verbringen musste – oder durfte, je nach Standpunkt.
Keine Legende war das so genannte Kranzgeld, das ein Mann an seine ehemalige Verlobte zu entrichten hatte, wenn er mit ihr geschlafen und sie danach verlassen hatte. Kranzgeld hiess diese Entschädigung, weil eine nicht mehr jungfräuliche Braut in der Kirche mit einem Strohkranz Vorlieb nehmen musste, während unberührte Bräute einen Myrtenkranz tragen durften. Anspruch auf Schadenersatz hatte die Frau, weil ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt nach dem Verlust der Jungfräulichkeit sanken. Das betreffende Gesetz wurde in Deutschland erst 1998 ersatzlos gestrichen, auch wenn es selbstredend schon längst obsolet geworden war.
Medizinische Fakten und gesellschaftlicher Wandel
Dass es sich beim Jungfrauen-Mythos bei Lichte besehen um wirklich nicht mehr als einen Mythos handelt, zeigt sich allein schon an den nüchternen medizinischen Fakten. So werden nicht mal alle Mädchen mit einem Jungfernhäutchen geboren, und jene, die eins haben, können es auf vielfältigste Weise vor dem ersten Geschlechtsverkehr beschädigen, beispielsweise beim Sport. Zudem kann es so klein oder elastisch sein, dass es beim ersten Mal nicht reisst. Schliesslich muss es nicht bluten, auch wenn das Häutchen reisst; mehr als die Hälfte der Frauen blutet beim ersten Sex nicht.
Fakten indes können Mythen nur selten zerstören. Es ist eher der gesellschaftliche Wandel, der dazu in der Lage ist. Seit der sexuellen Revolution der Sechziger- und Siebzigerjahre ist es in der westlichen Welt eher ungewöhnlich geworden, die Jungfräulichkeit von Bräuten zu kontrollieren. Das heisst freilich nicht, dass der Mythos deswegen schon gebrochen ist. Die deutsche Kulturwissenschaftlerin Anke Bernau weist in ihrem Werk «Mythos Jungfrau» (2007) darauf hin, dass Jungfräulichkeit nach wie vor «ein wichtiges Kennzeichen persönlicher und gesellschaftlicher Identität» geblieben sei. Ihr Verlust werde immer noch «als Initiationsritus begriffen».
Zudem kehrt der Jungfrauen-Mythos in letzter Zeit zurück. Neben den Migranten aus südlichen Ländern, für die Jungfräulichkeit oft noch ein zentraler Wert ist, sind es seit Anfang der Neunzigerjahre vor allem die amerikanischen Evangelikalen, die kräftig an der Renaissance der Keuschheit arbeiten. Sie haben eine internationale Bewegung («True Love Waits») gegründet, die mittlerweile auch in Deutschland tätig ist. Der Jungfrauen-Mythos dürfte uns noch eine ganze Weile erhalten bleiben.